Das Element Wasser in Märchen, Mythen und Brauchtum
von dorastochter
Wege des Wassers
„In einem Bächlein helle, da schoss in froher Eil, die launische Forelle, vorüber wie ein Pfeil...“1 – erinnern Sie sich? Und schon hört man aus tausend Quellen klare Wasser springen, fühlt sich schon allein durch dieses innere Bild erfrischt. Man mag dem reinen Bächlein auf seinem Weg in kühle Schluchten folgen, sich ausmalen, wie es zum Fluss wird und zum Meer hin strömt. Ein Teil wird in der Erde versickern und unterirdische Ströme bilden, ein Teil zum Himmel aufsteigen und Wolken formen. Es wird Regen geben, irgendwo wird Schnee auf vergletschertes Gebirge fallen, jemandem werden Tränen über die Wangen laufen. Kaum ein anderes Element ist so wandelbar in seiner Form wie das Wasser und keins findet so zielsicher seinen Weg.
Jenseitsorte
Im Jahreskreis wird das Element Wasser nach alter europäischer Vorstellung dem Schnitterinnen-Fest am 2. August (Süd-Westen) und der Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche (Westen) zugeordnet. Anfang August beginnen die Regengüsse die Kraft der Sonne zu brechen, es wird allmählich wieder kühler und auch feuchter. Wenn die Nächte wieder länger werden, weist uns das Wasser den Weg in die Tiefe, in die Unterwelt. Wie wir gesehen haben2, ist dies auch ein Weg des Sterbens und der Transformation. Wasser bildet immer wieder auch eine Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. In vielen Kulturen befinden sich die Jenseitsorte in einem Unterwasserreich, auf einer Insel, der Toteninsel, oder auf der anderen Seite des Flusses. Brunnen sind magische Tore in die andere Welt, wie wir aus dem Märchen von „Frau Holle“3 wissen. Im estnischen Märchen „das Geschenk der Flussmutter“4 finden wir das Bild der Verspiegelung, welches ebenfalls anzeigt, dass die Flussmutter ein Wesen der anderen Welt ist.
Wasser als Lebens-Elixier
Schon sehr früh in der Kulturgeschichte des Menschen findet die Idee von Wasser als einem omnipräsenten Element Ausdruck, das Leben und Tod umspannt. Aber warum? Ohne Luft ist ein Überleben genauso unmöglich. Auch ohne Erde, die uns Nahrung schenkt, können wir nicht existieren. Ohne Feuer ist es immerhin schwierig Mensch zu sein. Warum also ist gerade das Wasser so eng an die Vorstellung von Leben und Tod geknüpft? Vielleicht hat es einfach mit seiner unmittelbaren Erfahrbarkeit zu tun. Mehr als drei Tage können wir ohne Wasser nicht überleben. Wir spüren sein Fehlen sehr schnell, wenn wir Durst haben, wenn wir kochen wollen, uns waschen, unsere Kleider reinigen.
Wasser, Mond und weiblicher Zyklus
Es kommt aber noch etwas Weiteres hinzu: Die uralte ideelle Verbindung von Wasser, Mond und weiblichem Schoss, die das Wasser mit einem dreiteiligen Rhythmus verknüpft, mit Leben, Tod und Wiedergeburt. Dahinter steht die Vorstellung, dass alles Leben aus dem Wasser kommt, wieder dahin zurückkehrt und von neuem wiederkehrt. In gewisser Weise spiegelt dies den tatsächlichen Kreislauf des Wassers, der ewig lebendig bleibt. Die Analogie von Wasser, Mond und weiblichem Schoss findet unter anderem in der sog. „Venus von Laussel“ Ausdruck, einer Darstellung, deren Alter auf ca. 25'000 Jahre geschätzt wird. Eine Frau mit ausgeprägten Brüsten zeigt mit ihrer linken Hand auf ihren Unterleib und hält in ihrer rechten Hand ein liegendes (Mond-)Horn, in welches 13 Kerben geritzt sind. Dies entspricht der Anzahl weiblicher Zyklen wie auch der Anzahl der Mondmonate im Jahr.
Von der Besonderheit des Stierkopfs
In der bildlichen Darstellung wird diese Symbolik schliesslich durch den frontal gezeigten Stierkopf ausgedrückt. Er weist nicht nur eine frappante Ähnlichkeit mit Gebärmutter und Eierstöcken auf, sondern er kann mit seinen beiden Hörnern sowie einer aufgemalten Stirnblume zusätzlich auch die drei Mondphasen abbilden, welche in Verbindung mit dem weiblichen Zyklus gesehen werden.5 Zum Stier gesellt sich die „Weisse Kuh“, welche in der Entsprechung, die Mondgöttin repräsentiert. Die kosmische Milchstrasse erscheint als ihr Milchfluss und ganz im Sinne der symbolischen Sprache von „wie im Himmel so auf Erden“, ziehen sich ihre nährenden Flüsse auch durch die irdischen Landschaften, was in Flussnamen wie der irischen „Boyne“6 oder der englischen „Wharfe“7 noch greifbar ist.
Von den Wasserfrauen
Nebst Neptun, Poseidon, Wassermann und so manchem anderen Wassergeist begegnen wir in Märchen und Mythologie vor allem weiblichen Wasserwesen: Da gibt es die russische Russalka und in Frankreich die schöne Melusine, die estnische Flussmutter, die Wassermume in Schleswig-Holstein und das hilfreiche Meerweib zu Helgoland, da hören wir von den sibirischen Schwanenmädchen und den unzähligen Quelljungfern der Schweiz, von den Hexen der Wellen auf Sylt und den verführerischen Nixen und Sirenen in Griechenland – die Liste liesse sich noch lange fortsetzen. Längst nicht alle sind den Menschen wohl gesonnen und drücken auch die zerstörerische Seite der Wasserkräfte aus. Oft aber sind sie Schutzgeister ihres Gewässers oder deren Hüterin. Sie wachen darüber, dass die Gesetze und Bräuche rund um das Wasser eingehalten werden. So halten in Baden zum Beispiel die drei weissen Frauen bei Verunreinigung das heilkräftige Thermenwasser so lange zurück, bis alles wieder in Ordnung gebracht ist. Es erstaunt nicht, wenn wir das Wasser auch in rituellen Zusammenhängen antreffen. Es verleiht Lebendigkeit. Es wäscht rein. Es schützt. Es begleitet Übergänge. In manchen europäischen Ländern ist es noch heute Brauch, einem willkommenen Gast als erstes Wasser, Salz und Brot zu reichen. Insbesondere das Tauf- und Weihwasser trägt in der christlichen Tradition den Charakter des „Lebenswassers“, was in Märchen wie jenem "der sieben Raben“ besonders schön zum Ausdruck kommt.
Ran und ihre neun Töchter
Eine besondere Figur ist sicher die Meeresgöttin Ran aus der nordischen Mythologie. Halb Mensch, halb Fisch herrscht sie über alles Leben im Meer. Ihre neun Töchter verkörpern von der Fliessenden (Hrönn) über die Steigende (Hefring) bis hin zur Wellenspitze (Båra) nahezu alle Facetten des Meeres. Ran nimmt die Ertrunkenen gütig in ihrem Totenreich bei sich auf und bewirtet sie aufs Vorzüglichste. Zugleich hat sie aber auch etwas gruseliges an sich. Im Märchen „Ran und die drei Töpfe am Meeresgrund“ hält sie die Seele eines Unglücklichen gefangen, bis diese von einem gutmütigen Fischer wieder befreit wird. Der Gefangene übergibt dem Fischer einen Ring aus Gold, damit er geschützt bleibt und verspricht ihm guten Lohn. Aus der Fridthjofssaga wissen wir, dass es ratsam ist, sich für Ran mit Gold zu schmücken. So spricht Fridthjof zu seinen tapferen Mannen: „Es steht zu erwarten, dass einige von uns zur Ran fahren werden. Wir werden nicht viel gleich aussehen, wenn wir dahin kommen, wenn wir uns nicht prächtig schmücken. Es scheint mir rätlich, dass jedermann einiges Gold bei sich trage.“8
Auszug aus "Ran und die drei Töpfe am Meeresgrund"
„Der Fischer betrachtete das funkelnde Gold und überlegte, was er tun sollte. Dann fielen ihm die Hungernden, Frau und Kind, ein. Er steckte den Ring an den Finger und sprang in die See. Als er auf dem Meeresgrund war, spürte er keine Nässe. Er war auf einer grünen Wiese, die Sonne schien, und Männer mähten das Gras. In der Ferne hörte er Kuhglocken und Flötenspiel von Hirten. Die Männer kamen ihm bekannt vor; es war ihm, als sei er früher mit ihnen zur See gefahren, aber niemand sprach ihn an. Er kam vor ein grosses kristallenes Schloss. Die hohen Türen taten sich von selbst auf, und eine schöne Frau trat ihm entgegen: ‚Kommst du endlich? Ich habe lange auf dich gewartet’. Sie führte ihn in einen Saal; Kerzen brannten, die Tafel war mit köstlichen Speisen gedeckt – dem hungrigen Mann lief das Wasser im Mund zusammen. Schon wollte er sich setzen, da sah er die drei umgestülpten Töpfe auf dem Boden stehen, und die Worte des bleichen Mannes fielen ihm ein. Mit einer schnellen Wendung stiess er an den mittleren Topf, und er fiel um. Da hörte er ein Zischen, und ein feiner Nebelfaden hob sich vom Boden und entschwand. Die Meerfrau sah ihn mit ihren grünen Augen zornfunkelnd an und wollte ihn packen. Da entdeckte sie den Ring an seinem Finger und sprang erschrocken zurück.“9
Das Netz der Ran
Dies sollte uns aufhorchen lassen. Im mythologischen Bild wird der weibliche Schoss nämlich gerne als Topf, Kessel oder Krug dargestellt. Bei der keltischen Cerridwen ist es der Kessel der Wandlung, bei der Heiligen Verena der Krug, der als Füllhorn auch die Armen nährt, bei der nordischen Freyja ist es der Kessel des immerwährenden Lebens und der Inspiration. Wir finden hier also einen Hinweis darauf, dass auch Ran die Toten ursprünglich in ihrem Schoss aufgenommen hat, um sie wiederzugebären. Spannend ist auch der Umstand, dass Ran die Ertrunkenen mit einem Netz einholt. Die Archäologin Marija Gimbutas ist überzeugt, dass das Netzsymbol, welches sich über tausende von Jahren besonders in der Verbindung mit weiblichem Schoss-Dreieck, Uterus und Ei findet, das Symbol des „Lebenswassers“ schlechthin gewesen ist. Und zwar jenen Lebenswassers, welchem wir auch in den Märchen so häufig begegnen.10 Sollte Rans Netz tatsächlich in diesem alt gedachten Zusammenhang stehen, so dürften die Ertrunkenen fest mit ihrer Wandlung und Wiedergeburt rechnen. Denn wie der Mond, der monatlich stirbt und für drei Tage verschwindet, kehrt alles Leben nach einer Phase des Todes wieder. Der weibliche Schoss bleibt dabei über grosse Zeitspannen der menschlichen Kulturgeschichte hinweg das weiblich-göttliche Gefäss, das diesen Sinnzusammenhang ausdrückt: Aus ihm geht alles Leben hervor und in ihn stirbt alles zurück, um von neuem wiederzukehren.
Literatur
1 „Die Forelle“, Kunstlied von Franz Schubert, Text von Christian Friedrich Daniel Schubert
2 siehe Dorastochter, „Erntedank und Totentanz“ [Link]
3 Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, KHM 24
4 Viktor Gazak, Das Buch aus reinem Silber. Düsseldorf 1984
5 Vgl. Kurt Derungs, Landschaften der Göttin. Bern 2000, S. 81 ff.
6 „Boyne“ geht auf „Bo-Vinda“ zurück, was wir mit „die Weisse Kuh“ übersetzen können; Derungs, a.a.O, S. 68
7 „Wharfe“ geht auf altir. „ferb“, was „Vieh“ bedeutet, zurück. Vgl. Barbara Hutzl-Ronge, Quellgöttinen, Flussheilige, Meerfrauen. München 2002, S. 188
8 Hanna Moog, Die Wasserfrau. Köln 1987, S. 150 f.
9 „Ran und die drei Töpfe am Meeresgrund“, in Linde Knoch, Sagen und Märchen von Nordfriesland und anderswo. Kiel 2008
10 Vgl. Barbara Hutzl-Ronge, Quellgöttinen, Flussheilige, Meerfrauen.