Auf den Spuren des Widders
von dorastochter
Am Anfang steht ein Widder
Wer sich einmal ein wenig mit Astrologie beschäftigt hat, weiss, dass der Reigen der Tierkreiszeichen am 21. März mit dem sog. Sternzeichen „Widder“ beginnt. Traditionell wird jedem Zeichen auch ein Element zugeordnet – in diesem Fall ist es das Feuer. Es kommt hier ein sehr alter Gedanke zum Ausdruck, der den Widder mit Anfang und initialzündender Kraft gleichsetzt. Nur, warum eigentlich? Dem möchte ich hier nach gehen, ohne allerdings die astrologischen Themen weiter zu vertiefen.
Schaf und Widder
Schauen wir uns dieses Tier doch einmal genauer an, das unseren Vorfahren so heilig war, dass es sich über tausende von Jahren in Skulpturen, Mythen, Märchen und Bildern erhalten hat. Zunächst einmal fällt der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Tieren ins Auge. Während die Schafe eher in kleinen Herden mit den noch nicht geschlechtsreifen Jungtieren unterwegs sind, halten sich die Böcke abseits der Gruppe, entweder als Einzelgänger oder in einer kleinen Gruppe aus männlichen Tieren. Sie sind auffällig grösser als die Weibchen und tragen imposante Hörner, die sich im Alter spiralig eindrehen und über einen Meter lang werden können. Schafe gehören zu den ältesten Haustieren überhaupt. Man nimmt an, dass die Domestikation ca. 8'000 Jahre v.u.Z. im fruchtbaren Halbmond zwischen Euphrat und Tigris erfolgte. Dass wir hier in Europa einen starken Einfluss mediterraner Alt-Völker spüren, hat mit den Wanderrouten der Menschen zu tun. Die Stämme, die von Osten und Süden her Europa besiedelt haben, brachten nicht nur das neue Wissen um Tierhaltung und Ackerbau mit, sondern auch ihre damit verbundene Kultur und Weltanschauung. Dass das Schaf nebst Milch auch Wolle gibt, macht es besonders kostbar.
Ram
Die sexuelle Potenz des Widders ist so legendär, dass wir sie im Vulgär-Ausdruck „rammeln“ noch immer greifen können. Manche Quellen sprechen von bis zu fünfzig Begattungen pro Tag, die ein zu Hochform aufgelaufener Widder bestehen kann. „Ram“ ist das alt- und mittelhochdeutsche Wort für den „unverschnittenen Schafbock“, sprich das zeugungsfähige männliche Tier, den Widder. Das Wort hat sich im Englischen und im Niederländischen noch erhalten. Auch „rammen“ geht auf das Wort „Ram“ zurück – und wer einmal einen Widder mit gesenktem Kopf gegen etwas hat anrennen sehen, wird darüber wenig erstaunt sein, ist diese Stosskraft doch sehr eindrücklich. Wir können über die Wortgruppe also erfahren, dass der Widder mit Stosskraft, Lebenskraft und aktiver Sexualität in Verbindung gebracht wird.1
Von der Stosskraft des Frühlings
An was genau erinnert uns dies jetzt? Über die Astrologie konnten wir bereits greifen, dass der Widder etwas mit Anfang zu tun hat. Wenn wir seine herausragenden Eigenschaften nun mit den Kräften abgleichen, die im Frühling wirken, zumal er durch die Astrologie in dieser Zeit besonders hervor gehoben wird, kommen wir der Widder-Symbolik doch schon sehr nahe. Die Sonne gewinnt wieder an Kraft, zur Frühlings-Tagundnachtgleiche spüren wir es hier in unseren Breitengraden deutlich, und durch die Sonne angeregt, durchstossen die jungen Pflänzchen den noch harten Boden mit gebündelter Kraft. Wagen wir einen Blick in die Kulturgeschichte, so finden wir genau diese Vitalkraft durch den Widder repräsentiert.
Der Widder bringt die Sonne zurück
Heide Göttner-Abendroth fasst die Widder-Symbolik wie folgt zusammen: „In einer schafzüchterischen Kultur ist der Widder ein Symbol für die Sonne, was für den gesamten mediterranen Raum, insbesondere Nordafrika, gilt. Dies kann man an nordafrikanischen Felsenzeichnungen aus der Altsteinzeit, die Widder und Sonne verbinden, bis hin zur ägyptischen Verehrung des Widder-Gottes Amun und zuletzt bis zum hellenistischen Gott Jupiter Ammon, der Widderhörner trug, ablesen. Gemäss dieser alt-mediterranen Symbolik steht die Sonne zur Frühlings-Tagundnachtgleiche im Sternzeichen ‚Widder’, und nun beginnt die helle Jahreshälfte. Symbolisch gesehen bringt der ‚Widder’ nach dem Winter die Sonne zurück.“2
Hirtenkulturen
Hirtenkulturen haben Schafzucht und Ackerbau in der Regel kombiniert – vielleicht ähnlich wie wir es von der traditionellen Kultur der Tuareg noch kennen, einem Hirtenvolk der Sahara, das in Oasen zusätzlich Ackerbau betreibt. Ein spannendes Beispiel finden wir in der Mythologie der Summerischen Inanna.
Auszug aus dem Mythenkreis von Inanna und Dumuzi
„Dann ging Inanna daran, sich einen Geliebten zu suchen, um mit ihm die Heilige Hochzeit feiern zu können. Anfangs gefiel ihr der Ackerbauer, der ihr Flachs und Getreide brachte, gut. Doch dann erhörte sie die Werbung des Schafhirten Dumuzi, der ihr Milch und Sahne, honigduftenden Käse und Wolle zu geben bereit war und der versprach, von all diesen Gaben auch dem Ackerbauern etwas abzugeben. Mit Dumuzi, dem Sohn der Schafgöttin Sirtur, wollte Inanna die Heilige Hochzeit feiern. Lange währte die Nacht, in der sie einander beglückten. Inanna lobte Dumuzis Kraft und seine erotischen Tugenden, Dumuzi wiederum pries Inannas Schönheit und Grösse. Während die Göttin sich Dumuzi im Liebesspiel hingab, gediehen die Wiesen, Weiden und Bäume, spross das Getreide, trugen Gärten und Äcker Früchte, und die Tiere vermehrten sich. Als die Liebesnacht zu Ende war, setzte Inanna Dumuzi als König ihres Landes ein und verlieh ihm den Königsthron, den Hirtenstab der Rechtsprechung und die Krone.“3
Innana und Dumuzi
Wir finden in Inanna die Repräsentantin der Ackerbaukultur des Zweistromlandes an Euphrat und Tigris – Dumuzi wiederum repräsentiert eine frühe Hirtenkultur der Steppe. Die Verbindung von Inanna und Dumuzi weist auch auf die friedliche Verbindung von Ackerbau- und Hirtenkultur hin. Im Weiteren sehen wir, dass Inanna eins ist mit ihrem Land und dieses verkörpert. In den ihr gewidmeten Hymnen wird sie ja auch als „Herrin des Himmels und der Erde“ bezeichnet. „Wenn es Inanna gut geht, wenn sie von Dumuzis Zärtlichkeiten beglückt aufblüht, dann gedeihen auch das Land und seine Lebewesen.“4 Dumuzi wiederum, Sohn der Schafgöttin Sirtur, entspricht ganz und gar dem Widder, dem heiligen Tier der Göttin. Inanna preist seine Zärtlichkeit gleichermassen wie seine Stosskraft – und als König schliesslich, soll Dumuzi dem Volk Inannas die gleiche Sorgfalt entgegen bringen wie ein Hirt seiner Herde. Wenn wir die Mythologie von Inanna und Dumuzi weiter verfolgen finden wir den gesamten Zyklus von Kommen, Werden, Vergehen und Wiederkehren in ihr beschrieben. Dumuzi repräsentiert diese Stadien und entspricht damit sowohl dem Vegetations- als auch dem Sonnenzyklus, den wir bereits kennen gelernt haben (=>).
Die Göttin und der Widder
Wie wir es schon oft gesehen haben, bezieht sich gemäss der alten Vorstellung die sterbliche Welt auf die unsterbliche Welt, in welcher sie aufgehoben ist und aus der sie nach einer Phase des Todes immer wieder von Neuem hervor geht. Tod ist nach diesem zyklischen Verständnis nicht das Ende, sondern eine Phase der Regeneration und Verjüngung. In diesem ursprünglichen Weltbild (=>) steht der Widder als Sonnensymbol für die sterbliche Welt. Und wo wir ihn finden, da finden wir in aller Regel auch eine Göttin – so wie wir das bei Inanna und Dumuzi gerade gesehen haben.
Der Widder in den Ötztaler Alpen
Doch auch in den Ötztaler Alpen treffen wir auf diese symbolischen Bezugssysteme. Heide Göttner-Abendroth hat diese Region landschaftmythologisch in sehr schlüssiger Weise aufgearbeitet (siehe „Auf den Spuren von ‚Ötzis’ Göttin. Zur Kulturepoche der Jungsteinzeit in den Ötztaler Alpen“5). Auf der Kaser, einem jungsteinzeitlichen Siedlungsort, ist ein widderköpfiger Menhir zu finden, der auf den Berg Similaun ausgerichtet ist. Göttner-Abendroth ermittelt den, bzw. eben die Similaun als heiligen Berg, als Ahnfrau, dieser Gegend – ihr Name bedeutet so viel wie „Weisse Göttin Ana“ („sam“ bedeutet „weiss“, „alu“ heisst „göttlich“ und „ana“ ist das weit verbreitete Wort für Mutter oder Ahnfrau“). Dass der „Widder“ auf der Kaser der Similaun zugeordnet ist, ist von grossem symbolischen Gehalt. Ohne seine Sonne würde ihr Bergschoss wohl ewig vereist bleiben und die fruchtbaren Wasser zurück behalten. Doch im Frühling bringt der Widder die Sonne zurück, und mit ihr Wärme und Licht. Eis und Schnee beginnen zu schmelzen, die Almen beginnen wieder zu grünen und ein neuer Lebenszyklus beginnt.6 dass der Mann aus dem Eis, der sog. Ötzi gerade zu Füssen der Similaun bestattet wurde, dürfte wohl kein Zufall sein. In der Jungsteinzeit war es weit verbreitet, die Toten in den Schoss der Landschafts-Göttin zu betten – an jenen Ort, der ihre Wiedergeburt ermöglichen sollte.
Die Verbindung von Ahnfrau und Widder
Wir haben jetzt zwei Beispiele für die Göttin mit dem Widder kennengelernt. Ende Altsteinzeit, Anfang Jungsteinzeit können wir die wahrscheinlich ursprünglichste Schicht der Widdersymbolik greifen – dort war der Widder auf die Vogelgöttin (=>) bezogen. Die Widderhörner, welche die Zeugungskraft des Widders symbolisch ausdrücken können, werden oft als geschwungenes V dargestellt – ein Zeichen, das auch für die Vogelgöttin steht. Die Archäologin Marija Gimbutas weist auf Dutzende von Darstellungen hin, die den Widder mit der Vogelgöttin verbinden. Schon hier zeigt sich, wie die Lebenskräfte durch den Widder besonders betont wurden. Die Vogelgöttin ist ja auch eine Göttin des Todes, die das Leben nach einer Zeit der Regeneration auf ein Neues hervorbringt. Und wieder steht der Widder für die gewaltige Kraft des neuen Lebens, das sich in gebündelter Kraft seinen Weg bahnt. Jahrhunderte später finden wir im minoischen Kreta diese Verbindung von Widder und Vogel um den Menschen erweitert auf einem Siegel, ca. 1'500 v.u.Z., welches einen widderköpfigen Menschen mit Flügeln zeigt. Auf Kreta finden wir denn auch die alt-kretische Göttin Rhea mit dem göttlichen Widderkind Zeus. Ob es sich bei der Darstellung auf dem Siegel tatsächlich um Zeus handelt, sei dahin gestellt. Es zeigt vor allem, dass die Verbindung von Vogelgöttin und Widder über eine lange Zeit Bestand hatte.
Abraham und Isaak
Auch die jüdisch-christiliche Kultur ist stark von den alten Hirten-Kulturen geprägt, die ursprünglich einem zyklischen Weltbild folgten. Der Opfertod Jesu steht zwar nicht mehr im Kontext des ursprünglichen Kultspiels, doch ist sein Ursprung noch immer klar erkennbar. Im Umstand, dass Gott in der alttestamentarischen Geschichte von Abraham, anstelle von dessen ältestem Sohn Isaak einen Widder als Opfer akzeptiert, sieht Barbara Hutzl-Ronge einen Hinweis darauf, dass es sich bei Isaak in einer älteren Mythenschicht um den göttlichen Widder gehandelt haben muss, der durch den Tod hindurchgeht und wieder aufersteht. Die Götter behalten ihre Opfer ja erst zurück seit das zyklische Weltbild durchbrochen wurde. Zuvor war das „Opfer“ keine endgültige „Gabe“ sondern eine verbindungsstiftende Handlung, welche die Grenzen von Tod und Leben durch die Rückkehr zurück ins Leben zu überwinden vermochte.
Das Lamm Gottes
Dass der Widder in der christlich-jüdischen Tradition ursprünglich eine wichtige Rolle gespielt haben muss, sehen wir auch daran, dass dem biblischen Gott jeweils das erstgeborene männliche Lamm geopfert wurde – was der Geschichte von Abraham und Isaak entspricht. Die Annahme, dass es sich beim biblischen Gott ursprünglich um einen Widdergott gehandelt hat, ist daher gar nicht so abwegig. Immerhin wird der Sohn von Gott offen als Lamm bezeichnet. Aber wo ist da die Göttin, auf die er sich bezieht? Ganz vage taucht sie noch auf in der Jungfrau mit dem Lamm. Wobei hier das weiblich gedachte Kirchenvolk zur Braut Christi wird, die sich mit dem Lamm Gottes – ganz ohne jede sexuelle Konnotation – vermählt. Als Symbol wurde das Lamm für den Sohn Gottes beibehalten. Und zugleich wurde der sexuell potente, vor Lebenskraft strotzende Widder dämonisiert und verteufelt.
Der Widder im Verlaufe der Zeit
Wie wir gesehen haben, ist die Widder-Symbolik sehr alt und da sie sich zusammen mit den wandernden Völkern verbreitet hat auch universal. Im Lauf der Jahrhunderte wurden die Geschichten verändert, und oft wurde ihnen ein anderer Sinn untergeschoben. Doch letztlich können wir sie noch lange greifen, nicht zuletzt eben auch im „Agnus Dei“, dem „Lamm Gottes“, welches als Osterlamm in Gebäckform die Ostertische schmückt.
Literatur
1 Vgl. dazu Barbara Hutzl-Ronge; Feuergöttinnen, Sonnenheilige, Lichtfrauen. München 2000, S. 77
2 Heide Göttner-Abendroth; Berggöttinnen der Alpen. Matriarchale Landschaftsmythologie in vier Alpenländern. Bozen 2016, S. 51
3 Nacherzählung von Barbara Hutzl-Ronge, a.a.O., S. 44 f., basierend auf der Übersetzung von Vera Zingsem; Der Himmel ist mein, die Erde ist mein. Tübingen 1995, S. 23 ff.
4 Barbara Hutzl-Ronge, a.a.O., S. 45 f.
5 Heide Göttner-Abendroth, a.a.O., S. 27 ff.
6 Heide Göttner-Abendroth, a.a.O., S. 50 ff.