Das Bergmännlein
von dorastochter
Sie können das Märchen hier nachlesen.
Unversehrtes Weltverständnis
Was für ein Märchen! Immer wieder erzähle ich es gerne und meistens hören Erwachsene und Kinder gleichermassen gerne zu. Das für mich besondere an ihm ist, dass für einmal alles gut ausgeht. Nun mag man annehmen, dies sei für ein Märchen selbstverständlich: Happy End inclusive! Doch gibt es so viele ähnliche Geschichten, bei denen Gaben wie Kohle, Erde, Laub oder wie hier eben Schneckenhäuschen und Muschelschalen geringgeschätzt und achtlos liegen gelassen werden, oder bei denen irgendein wunderfitziger Schwager oder Bruder am Ende doch noch heimlich nachschauen muss, wer da den Rahm austrinkt – dass es dann eben doch kein Happy End gibt und ganz schnell vorbei ist mit dem ganzen Zauber.
Von verschiedenen Kulturen
Letztlich erzählen diese mythenhaften Geschichten, wie sie uns auch im Märchen vom "Bergmännchen" vorliegt, häufig davon, dass die Menschen ein urtümliches Wissen - nämlich wie man aus den Schätzen der Erde "Gold" gewinnt und sich ein gutes Leben macht, in welchem allen grundlegenden Bedürfnissen Rechnung getragen werden kann - verloren haben. Weltbilder sind von Menschen gemacht. Wir sprechen hier von verschiedenen Kulturen. Was in der einen Kultur noch gepflegt und tradiert wird, wird von der nachrückenden Kultur verdrängt. Diese Menschen verstehen nicht mehr, dass sich „Elbengeschenke“ wie Laub oder Erdklumpen über Nacht in wertvolles Gold verwandeln und sind in einen angemessenen Umgang mit Magie nicht mehr eingeweiht. Etwas verkürzt können wir sagen, es gibt eine Vorgängerkultur, die im Einklang mit der Natur lebt und diese als göttlich verehrt, und es gibt eine oder mehrere nachrückende Kulturen, die Natur nunmehr als Ressource verstehen und als etwas, was der Mensch sich Untertan machen soll.
Rückzugsort
Das Märchen vom Bergmännchen wurde in Untervaz überliefert – es stammt ganz offensichtlich aus dem Alpenraum. Dieses Gebiet konnte als Rückzugsort für die ersten Kulturen nachgewiesen werden, die seit der Jungsteinzeit in Europa ansässig waren und gegen Ende der Bronzezeit immer stärker durch die nachrückenden Kelten, dann Germanen und schliesslich Römer verdrängt wurden. Wir finden in diesen Gebieten sehr viel Belegmaterial, das trotz aller Veränderungen bis in die Jungsteinzeit zurück reicht und sich durch die Abgeschiedenheit der geografischen Lage erhalten konnte. Durch eine längere Warmperiode konnte sich in den Alpen schon früh eine Hirten- und Ackerbaukultur ansiedeln. Erst etwa 4'000 - 3'000 v.u.Z. veränderte sich das Klima, so dass die Alpen vergletscherten.
Von alten Völkern
Ob die Familie im Märchen vom Bergmännchen nun einer solchen Vorgängerkultur wie etwa den Rätern angehört, lässt sich natürlich nicht fest stellen. Ebenso wenig wie sich mit Sicherheit ausmachen lässt, ob wir es hier einfach mit dem Berggeist zu tun haben oder ob das Bergmännchen selbst einer noch älteren, dereinst tatsächlich existenten ethnischen Gruppe angehörte, die sich noch weiter zurück gezogen hatte. Doch spricht vieles dafür. Heide Göttner-Abendroth deutet die auffallend häufigen Sagen und Märchen von im Verborgenen lebenden Heinzelmännchen, Zwergen, Saligen und Dialen dahingehend, dass es sich dabei um kleiner gewachsene Menschen handelte, die urprünglich aus dem östlichen Mittelmeer-Raum stammen, sich während der Jungsteinzeit unter anderem in den südlichen Alpentälern angesiedelt und dort nach Einbruch der keltischen und germanischen Stämme immer weiter in die höher gelegenen, unwirtlichen Alpenregionen zurück gezogen haben. Demnach kommt in den Mythen und Märchen vom Typ "Heinzelmännchen" eine Art Friedensangebot der Urbevölkerung zum Ausdruck, die versucht, neben den Nachkommenden weiter existieren zu können. Im Gegenzug für ihre Wohltaten verlangen sie einzig und allein, dass man ihre Unsichtbarkeit im Sinne von Verborgenheit respektiert.1 Wenn wir die Mythen um die Fanes-Alpen betrachten, so erzählen sie uns in erstaunlicher Klarheit vom Untergang des Fanes-Volkes und damit von diesen geschichtlichen Prozessen.2
Das Bergmännchen und seine Gaben
Was auffällig ist, sind die Utensilien des Bergmännchens. An Gemsmilch und Gemskäse zu kommen gleicht ja bereits einem Wunder, da die Gemsen nicht domestiziert sind – sie gehören aber sehr wohl zu den Ziegenartigen. Das Bergmännchen und die Gemsen scheinen auf eine ursprünglichere Welt zu verweisen. Weiter führt das Bergmännchen eine Kristallschale und ein Flachstüchlein mit, was wiederum auf einen Kulturstand hindeutet, der mit dem Ackerbau einhergeht. Besonders das Leinentüchlein verweist auf den Flachsanbau und das Wissen über die Kulturpflanze und deren Verarbeitung, die wohl schon früh bekannt und Teil der Ackerbaukultur in den Alpen war.
Heilige Ziegen
Aus manchen anderen Märchen und Sagen aus dem Alpenraum wissen wir, dass "Zwerge" oder "Feen" zuweilen in Not geraten und sich solange ein paar Kühe oder Ziegen von den Menschen borgen. Wenn sie sie dann zurück bringen, so geben sie dreimal so viel Milch oder die Menschen werden anderweitig reich entlohnt. Ob sich das Bergmännchen die Ziege einfach geliehen hat? Oder hat die Ziege das Bergmännchen aufgesucht, um der armen Familie zu helfen? In der Mythologie sind Ziegen den Göttinnen und Göttern sehr nahe und tauchen auch immer wieder als Wesen auf, die zwischen den Welten gehen. In der nordischen Mythologie haben wir die Ziege Heidrun, die ganz oben in der Weltenesche Yggdrasil weidet und auch Frigga erscheint in Begleitung einer Ziege. Frau Holle wiederum hat einen Bock mit goldenen Hörnern, auf welchem ihr Geliebter, der Junker Tod, jeweils zur Erde reitet.
Das Muttli
Wenn wir Ziegen ganz konkret beobachten und ihr Verhalten untersuchen, so sehen wir, dass sie sehr soziale Wesen sind und auch mit dem Menschen enge Bindungen eingehen. Und natürlich sind sie eine wichtige Lebensgrundlage – in Zeiten ohne Kühlschrank bringen sie täglich frische Milch und tragen zum Überleben der armen Familien bei. Zudem sind sie sehr umsichtig und schlau, auch einigermassen frech und sind in den Bergen ganz zu Hause. Noch immer sind sie mit Steinböcken so nahe verwandt, dass sie sich gemeinsam fortpflanzen können. Es mag sein, dass das Muttle unseres Märchens mit den Geheimnissen des Berges besonders vertraut ist und so den Weg zum Bergmännchen findet. So genau lässt sich das nicht fest stellen. Doch zeigt das Märchenbild die Ziege sehr deutlich als Vermittlerin. Ihr Verschwinden bewirkt ja überhaupt erst die Begegnung mit dem Bergmännchen und schliesslich trägt sie den neuen Reichtum der Familie auf ihrem Körper. Und was für ein Reichtum! Wie die Muschelschalen wohl in die Alpen gelangt sind? Vielleicht wirklich auf den Besiedlungsrouten vom Mittelmeer her? Oder handelt es sich doch um heimische Flussmuscheln aus dem Alpenraum? Die Schneckenhäuschen sind sicher etwas einfacher zu finden. Doch haben die Menschen schon früh aus beidem Schmuck gefertigt und sowohl Muscheln wie auch Schneckenhäuschen hoch geschätzt.
Von der Verbindung
Wie auch immer wir dieses Märchen deuten wollen, es spricht von einer wunderbaren Integrität was das Zusammenwirken von Mensch und beseelter Natur angeht. Die Familie wird durch ihren Wohlstand nicht überheblich sondern befolgt ganz genau das Gebot des Bergmännchens. Sie wurden beschenkt und schenken zurück. Das ist eines der grundlegenden Gesetze, welche uns in jenem ursprünglichen Weltbild immer wieder begegnen. Man kann nicht einfach immer nur von der Natur nehmen. Man gibt auch etwas zurück – dies sind immer wieder ganz konkrete Gesten des Danks, die in mythologischen Bildern und in vielerlei Bräuchen überliefert sind. Wir kennen die Geschichte vom Käse der nie ausgeht, solange man stets ein Stück von ihm übrig lässt und wir kennen die Speisung der Ahnen und manches mehr. Immer geht es um die nachhaltige Pflege einer als grundlegend angesehenen Verbindung. Die Menschen von Untervaz kennen es, das Bergmännchen – denn sie erkennen, dass es hinter dem Wohlstand und dem Segen der einst armen Familie steht. Ob es noch immer so treu und gut für sie alle sorgt?
Literatur
1 Heide Göttner-Abendroth, Matriarchale Landschaftsmythologie. Von Ostsee bis Süddeutschland. Stuttgard 2014, S. 126 ff.
2 Heide Göttner-Abendroth, Frau Holle, Das Feenvolk der Dolomiten. Königstein-Taunus 2005, S. 177 ff.; insbesondere der Teil "kulturgeschichtliche Deutung", S. 304 ff.