Das Element Erde in Märchen, Mythen und Brauchtum
von dorastochter
Mutter Erde
Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob es ein Leben gibt, ohne die gute alte Erde? Eigentlich können wir sie gar nicht genug wertschätzen. Die Wasserläufe, welche ihren Körper wie Blutbahnen durchziehen, speisen uns und unsere Nahrungsquellen. Was wir essen kommt von ihr. Was wir an Kleidern tragen auch. Die Häuser, die wir bauen sind hauptsächlich aus Material, das sie uns spendet. Das Feuer in ihrem Inneren wärmt uns. Ihre ewigen Zyklen garantieren unsere Lebensgrundlage, in die wir eingebettet sind, auch wenn wir dies in unserer modernen Zeiten zuweilen vergessen. Wir sind ein Teil von ihr, sind Teil ihres Körpers. Mater ist Mutter, Materie. Materie ist Terra, ist Erde. Mutter Erde, Mutter des Lebens.
Die Erde in verschiedenen Mythenbildern
In Märchen und Mythen finden wir unendlich viele Bilder, die anschaulich von der Erde als lebendigem Wesen erzählen. All die Göttinnen, denen wir im Verlauf der letzten drei Jahre begegnet sind, sind letztlich als mythische Verkörperungen verschiedener Naturerscheinungen der Erde zu verstehen. Im Frühling haben wir sie in Gestalt der Aphrodite angetroffen, bei deren Landgang Gras und Blumen dem Boden entspringen, wohin auch immer sie tritt [Link]. Im Sommer haben wir sie als Frau Vrene kennen gelernt, die mit ihrem geliebten „Tannhuser“ in paradiesischen Venus-Höhlen die Liebe feiert [Link]. Im Herbst haben wir die Mythe aufgegriffen, die sie als Inanna zeigt, die in die Tiefen der Unterwelt hinabsteigt, um dort die Mysterien des Todes kennenzulernen [Link]. Und im Winter haben wir gesehen, wie sie als Frau Holle auf ihrem Wagen durch die Zeiten reist und die ihren aus der Tiefe heraus reich beschenkt [Link].1 An diesen Mythenbildern können wir ablesen, wie selbstverständlich unsere Vorderen mit der Erde als mütterlichem Wesen gelebt haben, mit ihren zyklischen Kräften von ewigem Kommen, Werden, Vergehen und Wiederkehren.
Mythische Schwangerschaft der Erde
Im Jahreskreis wird das Element Erde nach alter europäischer Vorstellung Allerseelen am 1. November (Nord-Westen) und dem Jul-Fest vom 21. Dezember (Norden) zugeordnet. Nach dem grossen Sterben im Herbst, wenn Laub und Früchte gefallen und in die Erde eingesunken sind, beginnt im Spät-Herbst die mythische Zeit der Schwangerschaft der Erde. Alles, was sie hervor bringt, nimmt sie auch wieder zu sich zurück. Und aus dieser inneren Tiefe quillt die Fülle des Lebens immer wieder neu hervor. Im Märchen von den „drei Rätseln“2 wird der Held gefragt, wer die Mutter sei, welche ihre Kinder, nachdem sie sie geboren und genährt hat, wieder in ihren Schoss aufnimmt. Worauf er denn auch prompt antwortet: „Diese Mutter ist die Erde, die Menschen sind aus ihr geboren, sie werden von ihr genährt und wenn sie sterben, so kehren sie wieder in ihren Schoss zurück!“ Sehr spannend ist auch eine Mythe von Frau Gode, die davon erzählt, wie der stärkste Mann, den die Erde je geboren hat, lernt, sich achtsam für das junge Leben einzusetzen und gerade trächtige Tiere zu schonen.3
Von neuen Lebensfäden
Im Winter, wenn sich das Leben tief ins Erdinnere zurückgezogen hat, geht da im Verborgen gar Wundersames vor. In der Anderswelt, in Höhlen und auf Brücken zwischen den Welten, sitzen sie, die mythischen Frauen und spinnen die neuen Lebensfäden, spinnen das Leben zurück in die Welt. Dieses in höchstem Masse magische Tun, das ausserhalb der Lebenswirklichkeit des Alltags steht, liegt ganz in ihren Händen – „wir Menschen können einzig den Lebensfaden aufnehmen und unsere Aufgabe auf Erden gut (fleissiges Spinnmädchen) oder schlecht (faules Spinnmädchen) umsetzen.“4 Hier finden wir auch die Schicksalsfrauen wieder, die im Volksglauben untrennbar mit dem Kindersegen verknüpft sind – denn auch sie zeigen sich als Spinnerinnen von neuen Lebensfäden. Die Vorstellung, dass die kleinen Kinder aus Höhlen oder bei bestimmten Steinen geholt werden, bringt schliesslich das Lebensverständnis zum Ausdruck, dass wir direkt von der Erde selbst stammen. Die Aargauer Sage von der Schlüsseljungfrau, erzählt denn auch sehr schön von den Ungeborenen im Erdinneren:
„Im Frühling, wenn die Bäume ausschlagen, kommt sie hervor aus ihrer unterirdischen Wohnung [...]. Dann beginnt sie heilkräftige Blumen zu pflanzen aus denen man allerlei Tränke kocht für Mensch und Tier. [...] Aber diese ausbündigen Stöcklein sind nicht gerade leicht zu finden, denn die Jungfrau braucht sie selber, um damit die grosse Schar von Kindern zu stillen, die sie im Berge bei sich hat. In einem Gewölbe steht nämlich der Kleinkindertrog und darinnen wohnen alle Ungeborenen. Soll nun die Hebamme von Tegerfelden wieder einmal ein kleines Kind ins Dorf bringen, so kann sie es nicht etwa nach Belieben hier nur abholen, sondern muss es manche Woche vorher samt dem Namen derjenigen Eltern, die sich ein solches wünschen, ordentlich anmelden. Verdienen sie eines, dann erhält die Ammenfrau den goldenen Schlüssel, der den Kindertrog aufschliesst.“5
Das wundersame Eigenleben der Erde
In der Annahme, dass die Erdkraft auf das Neugeborene übergeht, wird es mancherorts rituell auf die Erde gelegt. Auch Arzneien sollen ihre Wirksamkeit erhöhen, wenn man sie vor Gebrauch für einige Zeit in der Erde vergräbt. Und Reisende, die sich Schutz und eine baldige Rückkehr nach Hause erhoffen, nähen ein wenig Heimaterde in ihre Kleider ein.6 Die Erde schützt – und immer wieder verschlingt sie auch. Besonders wenn mit, mit Nahrung, ihren wohl wertvollsten Schätzen, achtlos umgesprungen wird, wie wir es etwa von der „Blümlisalp“-Sage7 her kennen, lässt sie den Frevler und zuweilen eine ganze Alp in sich versinken. Handkehrum kann es auch geschehen, dass sie sich weigert, etwas, das ihr nicht behagt, in sich aufzunehmen, wie zum Beispiel das Blut des Drachen Gorynytsch8.
Von Erdgeistern und Erdwesen
Nicht nur die ungeborenen Kinder leben tief im Erdinneren verborgen, sondern auch allerlei Erdgeister und Erdwesen. Da treiben Erdweiblein und Erdmännchen, Zwerge, Elben und andere „Unterirdische“ ihr Wesen. Oft stehen sie den Menschen hilfreich zur Seite, solange man sie nur nicht beobachtet und zu entdecken sucht. Wer hat sich nicht schon mal gewünscht, die Heinzelmännchen, würden heimlich Haus und Hof besorgen und all die Arbeiten erledigen, die einem gerade über den Kopf wachsen? Durch ihre Wohnstätte im Dunkel der Erde sind sie deren Schätzen besonders nah. Sie sammeln Früchte, Heilpflanzen und Kräuter, verarbeiten Gold, Silber und Edelsteine, bewachen Schätze und hüten manchmal auch Geheimnisse.
Die Schenkende
Bei aller Ambivalenz zeichnen gerade die älteren Märchen- und Mythenschichten doch ein überwiegend befriedetes Bild von der Beziehung zwischen Mensch und „Mutter Erde“, was wir nicht zuletzt auch den vielen Zeugnissen von den Schicksalsfrauen und von der „Schenkenden Frau“ entnehmen können. Sie verhelfen nicht nur zu Kindersegen und schützen Haus und Familie, sie helfen auch immer wieder Zeiten der Not zu überwinden und Krankheiten zu heilen. Manch ein Bescheidener erhält zum Dank von ihnen oder von einem unterirdischen Wesen ein wenig Erde zum Dank, das sich zu Hause in echtes Gold verwandelt. Oder ein paar Wundernadeln, die wie von Zauberhand Nacht für Nacht ein paar weisse, wollene Strümpfe stricken. Sie schenken und schützen, nähren und heilen, sie stehen Frauen bei der Geburt bei und singen an der Wiege des Neugeborenen. Und vielleicht – wenn uns eine dieser magischen Spinnerinnen den Lebensfaden zuwirft, danken wir es ihr einfach, indem wir ihn aufnehmen und unsere Aufgaben mit Freude erfüllen.
Literatur
1 siehe dazu auch Dorastochter, Märchen und Brauchtum, Märchenforum Nummern 65 bis 72 (2015 – 2016)
2 Barbara Stamer, Märchen von Mutter Erde, Krummwisch 2013
3 „Morgenstern und Abendstern“, Märchen aus Schleswig-Holstein. Märchen und Sagen, Hans Friedrich Blunck, Hamburg
4 Ursula Seghezzi, Macht – Geschichte – Sinn. Triesen 2011; S. 206
5 „Die Schlüsseljungfrau von Schloss Tegerfelden“. Ernst Ludwig Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau. Zitiert in Stamer, a.a.O.
6 Sigrid Früh, Die Elemente des Lebens. Waiblingen 2000, S.31 ff.
7 Was die Sennen erzählen. Märchen und Sagen aus dem Wallis. Bern 1907
8 „Vom Drachen Gorynytsch und dem Helden Dobrynja“. Sigrid Früh, Märchen von Drachen. Frankfurt 1988