Das Element Luft in Märchen, Mythen und Brauchtum
von dorastochter
Der Stoff des Lebens
Wieder ist es Frühling geworden - na ja, es liegt schon etwas davon in der Luft - und das Leben bereitet sich vor, neu auszutreiben. Wie schön, die Vögel wieder singen zu hören und ihrem emsigen Treiben zuzuschauen! Die Luft ist buchstäblich aus ihrer Stille erwacht. Blütenduft und Frische steigt in unsere Nasen, und zwischen lauen Lüftchen und Frühlingsstürmen findet die Vegetation von Neuem ihren Weg zurück in die Welt. Zu jeder Jahreszeit spielen die vier Elemente eine wesentliche Rolle – sind sie doch der Stoff, aus dem das Leben überhaupt gewirkt ist. Und doch treten sie zu manchen Zeiten besonders hervor.
Es liegt was in der Luft
Ich folge hier einer alten Elemente-Einteilung, die vom europäischen Erscheinungsbild der Natur abgeleitet ist und das Element Luft an den Anfang stellt: Im Jahresrad wird es der Zeit von Lichtmess (im Nord-Osten) und Frühlings-Tagundnachtgleiche (im Osten) zugeordnet.1 Wie oft sagen wir „es liegt was in der Luft“, wenn etwas noch ganz neu ist, noch ganz am Anfang, gerade so, dass wir es bereits erahnen, aber eben noch nicht ganz greifen können... ? Diese Qualität kommt auch in der Holle-Mythe von der „Taube mit dem goldenen Stühlchen“ zum Ausdruck. Das neue Vegetations-Jahr, welches im Frühling erst so recht zu neuem Durchbruch gelangen und von Neuem Form annehmen wird, ist zu Weihnachten im Keim schon da, will aber erst zu neuem Leben erweckt werden. Was tief in der Erde ruht, wird hier aus der Luft heraus beseelt.
Die Taube mit dem goldenen Stühlchen
„Zwischen dem Thüringer Wald und dem Harzgebirge lehnte an einem Hügelhand der Hof eines Bauern. Zur Weihnachtszeit schlich sich der Jungbauer, so wie er es stets bei seinem Vater gesehen hatte, hinaus auf den Acker und machte die Runde durch seinen Garten. Er schüttelte den Apfelbaum, er rüttelte den Birnbaum und sprach dazu den alten Spruch, den sein Ahne schon sprach: ‚Bäumchen, wach auf, Frau Holle kommt!’ Da vernahm er ein Rauschen im Gezweig und es wehte im Winde heran wie Flügelschlag, und Frau Holle erschien im Federkleid einer weissen Taube. Sie schwebte über die verschlossenen Knospen der Krone, kreiste dann um den ganzen alten Garten und breitete ihre Schwingen weit über das wellige Ackerland aus. Und wo sie flog, da senkte sich ein Segen nieder auf das Gefilde, sank in die schlummernden Wurzeln und Knollen unter schneebedeckter Scholle, auf dass sie wieder fruchtbar würden und Keime lockten im kommenden Jahr. Der Bauer gewahrte auch ein goldenes Stühlchen an ihrem Fuss. Darauf setzte die Taube sich nieder, wenn sie müde war von der weiten Reise. Und wo sie Rast hielt, da sind dann im nächsten Frühjahr die schönsten Blumen und Stauden gewachsen.“2
Die Göttin in Vogelgestalt
Nicht umsonst zeigt sich die Göttin gerade im Frühling besonders oft in Vogelgestalt. Bereits in der griechischen Schöpfungsmythe von Eurynome ist uns die nahe Verbindung von Göttin in Taubengestalt, Anfang (Frühling) und Wind aufgefallen.3 Aber längst nicht immer sind die Winde so schöpferisch, wie in dieser Mythe, da Eurynome zusammen mit der Windschlange Ophion das universale Welten-Ei zeugt.
Wind und Wetter
So wunderbar uns der laue Wind erscheinen mag, der uns inmitten grosser Hitze Kühle bringt und uns wieder zu Atem kommen lässt, so grausam kann der Sturm über uns hinweg fegen und alles zerstören, was wir mühsam aufgebaut haben. Welches Wetter bringt er uns, Regen oder Sonnenschein, Hagel und Sturm oder Schäfchenwolken, die friedlich dahin ziehen? Mal zeigt sich der Wind als der Atem des beseelten Himmels, als göttlicher Odem, aus welchem auch das Wort hervor geht, mal als furioser Wirbelwind, in welchem eine verirrte Seele ihr Unwesen treibt. Dem gilt es zu begegnen.
Windfutter
Während die Seeleute Knoten lösen, um den Wind herbei zu rufen und dem Sturm den nackten Hintern zeigen, um ihn zu bannen, wird der Wind auf dem Festland gerne durch Nachahmung angelockt, wenn er gebraucht wird – vornehmlich durch Pfeifen –, und gefüttert, wenn man fürchtet, er könnte Schaden bringen. Dann legt man das Windfutter an einen Ort, der für den Wind oder Sturm gut erreichbar ist und bespricht die Gabe mit den Worten: „Da hast du, lieber Wind, für dich und auch dein Kind.“4 Und bei den Esten wiederum war es Brauch, zur Besänftigung der Windes-Käthe Flachsbüschel in den Zaun zu binden.5
Das Tote ist atemlos - was lebt, das atmet
Das Leben ist ohne Atem nicht denkbar. In gewisser Weise können wir sagen, das Tote ist atemlos. Was lebt, das atmet. So gesehen ist es kein grosser Schritt zu der Vorstellung, dass etwas aus dem Reich des Todes durch Beatmen ins Leben gerufen, beziehungsweise ins Leben gesungen werden kann. Diesem universalen Motiv begegnen wir unter anderem auch in der germanischen Mythologie: „Im Anfang der Zeiten lag Stille des Todes auf dem Ozean der Unendlichkeit. Kein Windhauch bewegte die Luft, keine Welle erhob sich aus der Tiefe. Alles war starr, stumm, ohne Atem und Leben.“ Aber dann fährt da ein Schiff durch diese Ödnis und auf seinem Verdeck ruht, versunken in den Traum des Lebens, Bragi, der göttliche Liederschmied. Wie er an der Schwelle des Todes vorbei gleitet, erwacht er, nimmt seine Harfe zur Hand und singt ein Lied, „weit schallend durch die neun Welten, ein fröhliches Lied vom Wonnerausch des Daseins, von Kampfeswut und Siegesmut, von Liebeslust und Liebesglut.“6
Von Iduna, Bragi, Thiassi und Skadi
Spannenderweise ist Bragi, welcher das Leben so beherzt in die Welt hinein singt, ausgerechnet mit Iduna, der Göttin des Frühlings vermählt. Jeden Abend besucht er seine Angebetete, die ihre luftige Wohnung hoch oben in der Krone der Weltenesche Yggdrasil eingerichtet hat und singt ihr seine Lieder vor. Die Vögel des Waldes stimmen mit ein und alle Welt lauscht seiner Melodie. Im Herbst aber wird Iduna vom Sturmriesen Thiassi entführt, der als Adler auftritt. Und erst Loki, der trickreiche Gott, kann sie wieder befreien. Als Falke jagt er dem Adler davon und trägt Iduna in Gestalt einer Nuss in seinen Krallen mit sich fort. So versinnbildlicht Iduna auch die reduzierte Form, die sie im Winter einnimmt. Sie ist zu dem Keim geworden, aus welchem sie sich später wieder von Neuem entfalten wird. Der Sturmriese Thiassi wiederum überlebt die wilde Jagd nicht. Wenn der Frühling kommt, ist seine Zeit vorbei.7 Doch auch er wird eines Tages wiederkehren – und sei es nur, um sich unter die Stürme zu mischen, die bei der Hochzeit seiner wilden Tochter Skadi mit Uller, in allen Tonarten zum Tanz aufspielen.
Schnell wie der Wind
Wer fliegen kann ist schnell. Schnell wie der Wind. Winde über-winden grosse Distanzen und ermöglichen Wege durch ihr be-wegen, oft über die Grenzen zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt hinweg. Dies kommt auch in den Märchen immer wieder zum Ausdruck. Oft gehört der Wind zu den wegweisenden Instanzen, die den Suchenden hilfreich zur Seite stehen und sie mit magischen Gegenständen ausstatten, damit sie Prüfungen bestehen und ihr Glück machen können. Das sehen wir besonders schön im Siebenbürgischen Märchen vom „Borstenkind“8 oder im rätoromanischen Märchen „von den drei Winden“9. Wer hätte sie nicht selber gerne, die Pantoffeln des Nordwindes, die einen bei jedem Schritt drei Stunden voran bringen? Oder den Hut des Südwindes, der einen so unsichtbar macht wie Luft? So unterschiedlich die Winde in den Märchen und Mythen auch daher kommen, eines ist ihnen gemeinsam. Immer repräsentieren sie eine überirdische, mitunter göttliche Kraft, die als unabdingbarer Teil des Lebens wirkt. Der Sturm schafft Raum für das neue Leben – und die lauen Winde schenken ihm den Atem.
Literatur
1 Ursula Seghezzi, Macht – Geschichte – Sinn. Van Eck Verlag 2011,
S. 15 ff.
2 Karl Paetow, Frau Holle, Volksmärchen und Sagen.
Husum 1986, S. 93
3 siehe Dorastochter, „Mythen und Brauchtum um Ostern“, Märchenforum 2015, 65. Ausgabe, S. 11.
4 Sigrid Früh, Die Elemente des Lebens, Verlag Stendel 2000, S. 103
5 Oskar Loorits, Grundzüge des Estnischen Volksglaubens, Bd. II, Carl Bloms Boktryckerei, 1951, S. 50
6 Vera Zingsem, Vom Charme der germanischen Göttermythen, Klöpfer&Meyer 2010, S. 77 ff.
7 Vgl. Zingsem, a.a.O., S. 87 f.
8 Elisabeth Hering, Kostbarkeiten aus dem deutschen Märchenschatz. Berlin 1980
9 Caspar Decurtins, Ursula Brunold-Bigler; Die drei Winde. Rätoromanische Märchen aus der Surselva. Verlag Desertina 2002