Das Geschenk der Flussmutter
von dorastochter
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Die Flussmutter taucht auf
Ähnlich geheimnisvoll wie die Flussmutter im estnischen Märchen plötzlich erscheint, ist sie eines Tages auch in meinem Leben aufgetaucht. Seit da hat sie mich nie wieder los gelassen und auf ihren verschlungenen Wegen immer wieder zum Staunen gebracht. Ganz klar: Ein besonders liebes Lieblingsmärchen. Als ich meinen Weg mit der Flussmutter begann, bin ich vielem von mir selbst begegnet und irgendwann wollte ich dann auch wissen, was es kulturgeschichtlich mit diesem Märchen auf sich hat. Wer ist sie eigentlich, diese segenspendende Frau, die einem jungen Mädchen das Glück ins Leben bringt und seine Truhe mit Silber füllt?
Die besondere Situation Estlands
Im Gegensatz zu den meisten mitteleuropäischen Ländern blieb die Christianisierung Estlands, welche ab dem 10. Jahrhundert einsetzte, über lange Zeit recht oberflächlich. Während hauptsächlich zugezogene Deutsche eine christliche Oberschicht bildeten, blieb in der breiten Bevölkerung vieles von jenem ursprünglichen, vorchristlichen Weltbild erhalten, welches in den Märchen immer wieder durchscheint. Die Transformationen und Umdeutungen sind entsprechend längst nicht so ausgeprägt wie in Mittel- und Westeuropa. Auch das Märchen vom „Geschenk der Flussmutter“ ist voller Spuren, die auf ein magisches Welt- und Selbstverständnis verweisen. Und tatsächlich finden wir manches, was im Märchen überliefert ist auch im Volksbrauchtum wieder.
Initiation des jungen Mädchens
In diesem Märchen geht es in erster Linie um die Initiation des jungen Mädchens, das zur Frau wird. Es beginnt damit, dass das junge, verwaiste Mädchen mit seinem Kummer zur Flussmündung rennt, und dort vor lauter Elend alles um sich herum „vergisst“. Das Märchen spielt hier in einem Bild auf die ganz konkrete Praxis an, in welcher die Initiantin zunächst einen rituellen Tod erfährt: Sie legt ihren früheren Status als Mädchen ab, denn ihre Kindheits- und Jugendjahre sind nun vorbei. Sie „vergisst“ alles, was vorher war und tritt ins Reich der Ahnen ein. Sie ist nicht mehr da, woher sie kommt und noch nicht dort, wohin sie geht. Sie ist dazwischen. Mitten in ihrem Übergang. Von der Gemeinschaft abgeschirmt wird sie ins Erwachsenenleben eingeweiht, um später als mündiges Mitglied „wiedergeboren“ in diese Gemeinschaft zurückzukehren und ihren neuen Lebensabschnitt anzutreten (Petra Schönbacher, Das Feuer der Baba-Jaga. Wien 2006, S. 22 ff.) Bei jungen Mädchen nehmen diese Einweihung ins Erwachsenenalter, welche kulturelles Wissen, Umgang mit Sexualität, Einführung in Regeln der Gemeinschaft und vieles mehr umfasst, für gewöhnlich ältere Frauen vor. In den Märchen sind sie oft als mythologische Figuren abgebildet, als Ahnengeister und Göttinnen wie zum Beispiel Frau Holle oder Baba-Jaga. Hier ist es die Flussmutter.
Schutz- und Ahnengeist
Wir können in ihr einen Schutz- und Ahnengeist der jungen Frau sehen, zumal sie das Land, in welchem sie wohnt, eindrücklich als Jenseitswelt beschreibt (vgl. dazu auch Kurt Derungs, Magische Quellen. Heilige Wasser, Bern 2009, S. 103 f.). Die Märchen- und Mythenlandschaft Estlands kennt tatsächlich viele Unterwasserwelten, in welchen sich die Ahnenseelen aufhalten, ehe sie wieder zurück ins Leben und – gemäss dem Verständnis, das sich aus einem magischen Weltbild ergibt – als kleine Kinder wiedergeboren werden. Interessant ist auch, dass die Einweihung, die hier symbolisch durch die Übergabe der Kieselsteine dargestellt wird, von Schoss zu Schoss erfolgt und dies ausgerechnet im Schoss-Delta der Flussmündung.
Von Silbermünzen
Landschaftsmythologisch betrachtet ergibt dies durchaus Sinn, denn die Landschaft selbst wurde von den hier ansässigen alten Kulturen durchaus körperlich aufgefasst und als beseelt erlebt - nicht umsonst reden wir noch heute vom Meeresbusen, vom Flussknie oder vom Bergrücken. Der weibliche Schoss, insbesondere der Erdschoss, gilt seit je her als Quelle des Lebens, aber auch als geheimnisvolles Tor ins Jenseits, wo das Leben eine wundersame Wandlung erfährt, ehe es von Neuem wiedergeboren wird. Das folgende estnische Sprichwort bezeichnet das Wasser offenkundig als Mutter und gebärendes Element: „Das Wasser ist die Mutter der Lebenden“ (Oskar Loorits, Grundzüge des estnischen Volksglaubens II, Lund, 1951, S. 207). Etwas davon klingt auch in den estnischen Hochzeitsbräuchen noch nach, bei welchen einerseits die Hochzeitsgäste der Braut als Gabe Silbermünzen in die vorgehaltene Schürze werfen – ganz so wie das die Flussmutter in unserem Märchen tut –, andererseits die Braut selbst immer wieder Silbermünzen als Gaben für die Schutz-, Orts- und Hausgeister niederlegt und so insbesondere die Wassergeister bedenkt (Maija-Liisa Heikinmäki, Die Gaben der Braut bei den Finnen und Esten, Helsinki 1970, Teil II, S. 130 ff. und Ülo Tedre, Der Lebenslauf und seine Bräuche, in: Estnische Volksbräuche, Tallinn „Perioodika“, Tallinn 1990, S. 74 f.).
Der weibliche Schoss als Füllhorn und Quelle der Kraft
Unser verwaistes junges Mädchen erfährt also eine Initiation in ihr Erwachsenenalter und wird von der Flussmutter besonders geweiht. Wenn ich bedenke, aus welcher Fülle die junge Frau am Ende des Märchens schöpfen kann, verstehe ich die „Schossgabe“ der Flussmutter auch als eine Einweihung des Mädchens in diese weibliche Quelle der Kraft. Und natürlich weisen die Silbermünzen die junge Frau als etwas Besonderes aus – ihr späterer Mann wird daran erkennen, dass sie ein "reines Herz" hat und deshalb den besonderen Segen der Flussmutter auf sich trägt. Sie ist mit den guten Geistern verbunden – mit dem Land und ihren Ahnen. Vielleicht ist es gerade diese spirituelle Verbundenheit, die sie ihr eigenes Verwaistsein überwinden lässt.
Das Schicksal, das sich wendet
Am Ende des Märchens sehen wir eine starke Frau in wunderbarem Liebesglück – auch dazu hat die Flussmutter ihr verholfen –, die aus dem Vollen schöpft und gerade jene, die dasselbe Schicksal teilen und selber verwaist sind, zu sich nimmt, um ihr Leiden zu mildern. Sie weiss, was es heisst, ohne Eltern aufzuwachsen und sorgt aus dem tiefen Verständnis der eigenen Erfahrung heraus für die Waisenkinder in ihrer Umgebung, wie eine richtige Mutter. So, wie es vielleicht nur eine kann, die ihre Ahnen stärkend im Rücken weiss.
Märchen - Das Geschenk der Flussmutter