Das matriarchale Weltbild und die Göttin-Heros-Struktur | Abschlussarbeit Teil 4|8
von dorastochter
Von "Gut" und "Böse"
Schauen wir uns die Göttin-Heros-Struktur etwas genauer an. Was sie grundlegend zum Ausdruck bringt, ist die matriarchale Beziehung von Göttin und Heros, die in einem Kultdrama, das den Jahreszeiten folgt, abgebildet und jährlich wiederholt wird.1 Doch wer ist sie nun eigentlich, diese Göttin? Und wer ist dieser Heros? Aus unseren (patriarchalen) Denkmustern heraus sind wir gewohnt, wertende Einteilungen vorzunehmen und Kategorien zu bilden, die sich gegenseitig ausschliessen. Wir trennen in Gut und Böse, in Schwarz und Weiss, in Freund und Feind, in Mensch und Natur. Dabei bleibt unser Augenmerk vorrangig auf das Lineare und das Trennende gerichtet. Durch die Kategorien, die wir auf diese Weise schaffen, bleibt vieles unvereinbar oder schliesst sich sogar gegenseitig aus. Der Tod wird so zum Gegenteil vom Leben.2
Polaritäten
In einem matriarchalen bzw. schamanistischen Weltbild hingegen ist alles mit allem verbunden, und es gilt die allgemeine Vorstellung, dass durch diese Verbundenheit auch alles wechselseitig aufeinander einwirken kann. Der Tod ist nicht einfach das Ende vom Leben, sondern Leben und Tod gelten als sich gegenseitig bedingende Kräfte, die zyklisch auftreten und sich in einer Folge von Prozessen immer wieder abwechseln. Genauso werden sämtliche scheinbaren Gegensätze als gleichwertige Polaritäten aufgefasst, die untrennbar miteinander verbunden sind und einzeln, ohne einander, gar nicht denkbar wären. Sie bleiben stets Teil eines als göttlich verstandenen Ganzen und darin aufgehoben, denn es kann aus einem solchen Kreislauf nichts und niemand heraus fallen und verloren gehen. Die Archäologin Marija Gimbutas schreibt dazu in Bezug auf jungsteinzeitliche Megalithgräber:
„Die Erde galt als die Mutter der Toten, das Grab ist der Mutterschoss. Das Ziel der Erbauer dieser Steinanlagen bestand darin, dem Grab eine Form zu geben, die dem mütterlichen Körper so ähnlich wie nur möglich war. Grabkammern und Gang bildeten den Uterus und die Vagina nach oder auch die üppigen Formen einer schwangeren Frau. Aus dem Schoss dieser als Göttin verehrten Kraft der Mutter Erde wurde alles Leben, wurden auch alle Menschen geboren und in diesen Schoss kehrte alles zurück.“3
Wiedergeburtsglaube
Der Wiedergeburtsglaube ist dabei sehr konkret. In matriarchalen Kulturen gehen die Menschen ganz selbstverständlich davon aus, dass sie nach ihrem Tod eine andere Seinsform annehmen, sich für eine gewisse Zeit in der Jenseitswelt (Anderswelt) der Göttin aufhalten und sich da verjüngen, um schliesslich von einer jungen Frau des eigenen Clans wieder ins Leben zurück geholt zu werden. Diese komplexe Vorstellung ist beispielsweise auch in den Holle-Mythen4 sehr schön abgebildet. Kinder werden entsprechend als wiedergeborene Ahnen angesehen – etwas das im deutschen Wort „Enkelin“, „Enkel“ noch nachklingt; es bedeutet „kleine Ahne“, „kleiner Ahn“5. Nach matriarchalem Verständnis sind Kinder deshalb besonders heilig und Frauen nicht bloss Schenkerinnen des Lebens, sondern Wiedergebärerinnen, die Tod in Leben umwandeln können. Die besondere Würde des Mannes besteht wiederum darin, dieses Leben mit allen Kräften zu schützen. Im Märchen treffen wir auf einen regen Verkehr zwischen der Diesseits- und der Jenseitswelt, welcher vor diesem Hintergrund gelesen, durchaus Sinn macht.
Harmonie zwischen göttlichem Universum und Menschenwelt
Matriarchale Menschen beobachten die Natur sehr genau und leiten ihr Weltbild von den gemachten Beobachtungen ab. Dabei bringen sie auch die Gesellschaft als Ganzes mit all ihren Lebensbereichen in perfekte Übereinstimmung mit ihr. Die zyklischen Prozesse von Wachsen, Reifen, Vergehen, Regeneration und wieder Wachsen zeigen sich analog sowohl auf der Erde (Jahreszeiten, Vegetation) als auch im Himmel (Mond, Sonne und andere Gestirne), weshalb sie in direktem Bezug aufeinander, als eine Art gegenseitige Spiegelung verstanden werden. In diesem Sinne gilt „wie im Himmel so auf Erden“ und alles was oben ist, ist auch unten. Während die kosmische Göttin als die Schöpferin des Universums gesehen wird, garantiert Mutter Erde als Göttin des sich ständig erneuernden Lebens, das sie zugleich auch ernährt, Regeneration und Wiedergeburt.
Das matriarchale Weltverständnis
Daraus ergibt sich das matriarchale Weltverständnis, nach welchem alles aufeinander bezogen und ineinander eingebettet ist: Die Menschen in die Gesellschaft, die Gesellschaft in die irdische Natur und diese wiederum in die kosmische Natur. Es wird alles daran gesetzt, diese Harmonie zwischen göttlichem Universum und Menschenwelt zu wahren – denn wenn sie nachhaltig gestört wird, fällt die Welt auseinander. Deshalb wird alles und jedes immer wieder ins Gleichgewicht gebracht.6
Das Ritual zur Erhaltung des Gleichgewichts der Welt
Die jahreszeitlichen Kultdramen matriarchaler Gesellschaften sind denn auch in genau diesem Sinne zu verstehen. Sie sind eine komplexe Form der direkten Kommunikation mit der Natur, die der Erhaltung des Gleichgewichts der Welt dient. Dabei geht es darum, die Balance des ganzen Lebensgefüges immer wieder herzustellen und einer ganz ähnlichen Analogie entsprechend, wie wir sie bereits zwischen den Bewegungen am Himmel und jenen auf der Erde sehen konnten, das Innen mit dem Aussen in Einklang zu bringen. In gewisser Weise können wir sagen, dass die Kräfte in den Menschen mit den Kräften in der Natur regelmässig synchronisiert werden, damit die Abweichung nie allzu gross wird. Wir haben es hier mit einem durch und durch magischen Weltbild zu tun, denn es geht davon aus, dass alle Kräfte, Erscheinungen und Wesen miteinander verbunden sind und dadurch in wechselseitiger Beziehung stehen.
Jahreskreisfeste
Durch rituelle Handlungen wird diese tiefe Verbundenheit zum Ausdruck gebracht, bestätigt und bewusst gelebt. Fast überall auf der Welt finden sich Spuren von den grossen acht Jahresfesten, die sich aus den beiden Sonnenwenden, den beiden Tag- und Nachtgleichen (Äquinoxien) und den astronomischen Achsen, die genau dazwischen liegen, ableiten (vlg. Graphik). Im Brauchtum sind diese Feste in ihrer ursprünglichen Bedeutung noch immer greifbar, wenn denn auch in teilweise stark reduzierter Form. Ich erinnere hier zum Beispiel an das Osterfest mit seiner archaischen Symbolik (Ei aus dem alles Leben kommt) oder an das Weihnachtsfest mit dem immergrünen Weltenbaum (Tanne), der die Äpfel des Lebens trägt (rote Kugeln) und das auch in seiner Lichtersymbolik voll und ganz dem matriarchalen Mittwinterfest entspricht.
Achtspeichiges Jahresrad und zyklische Feste 7
(für unsere Breitengrade; Jahreszeiten)
Sakrales und Profanes gehen Hand in Hand
Wenn alles ein Teil des Göttlichen und damit selber göttlich ist, wird eine Trennung in Sakrales und Profanes gänzlich undenkbar. Spiritualität, Kunst, Wissenschaft, Politik, Ökonomie und Sozialstruktur durchdringen einander und ergeben ein aufs Feinste abgestimmtes symbolisches, rituelles und gleichermassen praktisches System. Bei matriarchalen Gesellschaften lassen sich diese Lebensbereiche isoliert betrachtet kaum verstehen. Jede Tätigkeit, ob sie nun die „häusliche“ Arbeit, den Ackerbau oder die Jagd betrifft, hat nebst ihrer praktischen Eigenschaft auch einen spirituellen Gehalt und ist gleichermassen alltägliche Verrichtung wie auch bedeutungsvolles Ritual.8 So sind Steinkreise wie beispielsweise Stonehenge, Averbury oder Dromberg, sowohl Observatorien zur Beobachtung der Gestirne als auch Sonnenuhren und Mondkalender (Wissenschaft), zugleich aber auch Kultort und Tanzplatz für die sakralen Feste (Spiritualität und Kunst), die wiederum im Gleichlauf mit den verschiedenen Arbeiten des Ackerbaus stehen und zudem eine Umverteilungsfunktion der Güter inne haben (Politik und Ökonomie) und schliesslich auch für den Zusammenhalt einer matriarchalen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen (soziale Ebene).9
Die besondere Zahl Drei
Auffällig im matriarchalen Weltbild ist die Dreizahl, die immer wieder auftritt und im Märchen besonders ins Auge springt. Die Göttin selbst vereint auf sich drei Aspekte, in denen sie im Wechsel erscheint. Sie spiegelt sowohl den Kreislauf des Lebens (Mädchen – Frau – Greisin) als auch den Kreislauf der Natur (Leben – Sterben – Wiederauferstehen). In Bezug auf unsere Breitengrade zeigt sich die Göttin zu Beginn des Jahres als Lichtbringerin, Jägerin, Amazone (Mädchengöttin), ab Mai als Schenkerin der Liebe und des Lebens (Frauengöttin) und ab August/September als Bringerin von Tod und Wiedergeburt, Magie, Wissen und Weisheit (Greisingöttin). Diese drei Aspekte sind stets aufeinander bezogen und untrennbar miteinander verbunden. Es handelt sich dabei keineswegs um drei verschiedene Gestalten, sondern um die eine Grosse Göttin, die sich im Gleichlauf mit der Vegetation durch diese drei Erscheinungsformen ausdrückt und sich als Greisin wieder zu einem Mädchen verjüngt.
Die Eine mit den 1000 Gesichtern
Sie ist dabei die „Eine mit den tausend Gesichtern“, die unendlich viele Erscheinungsformen annimmt, aber dennoch stets die Eine bleibt. Dieselbe Analogie gilt auch für die Mondgöttin, die eines der wohl ältesten weiblichen Symbole überhaupt sein dürfte. Bei zunehmendem Mond wird sie als die weisse Mädchengöttin verehrt, bei Vollmond als die rote Fraugöttin und bei abnehmendem Mond und Schwarzmond als die schwarze Greisingöttin. Drei Nächte lang ist sie nicht zu sehen, ehe sie verjüngt als Mädchengöttin wieder in Erscheinung tritt und damit das Mysterium der ewigen Wiedergeburt vollzieht.10 Die drei klassischen matriarchalen Farben, die auch in den Märchen immer wieder vorkommen, sind Weiss, Rot und Schwarz. Dabei ist die Farbe der Mädchengöttin, des zunehmenden Monds und des Frühlings Weiss. Die Farbe der Fraugöttin, die auch für den Vollmond und für den Sommer steht ist Rot. Die Farbe der Greisingöttin, des Schwarzmondes und des Winters ist Schwarz.
Stockwerk-Weltbild
Ebenfalls treffen wir die Dreiheit im sogenannten Stockwerk-Weltbild an, das mit der dreifaltigen Göttin einhergeht. Im Himmel wohnt die jugendliche, atmosphärische Göttin, die wir in der astralen Mädchengöttin verkörpert finden und hinter der die Urgöttin des Universums, die kosmische Schöpferin der Welt steht. In der Mitte bewohnt die Göttin als erwachsene, fruchtbare Frau Land und Meer und bringt mit ihrer schöpferischen Liebeskraft das Leben hervor. Hinter ihr steht die andere Urgöttin, die Erde als Mutter allen Lebens. Die Greisin-Göttin ist ambivalent. Sie steht für das Sterben, aber auch für das Wiedergeborenwerden. Sie bewohnt die Unterwelt, die Anderswelt, und nimmt das Leben zurück in die Tiefe des Erdschosses, wo sie es auflöst, umwandelt und schliesslich von Neuem auferstehen lässt. In ihr finden wir auch die Schicksalsgöttin.11
Die sterbliche und die unsterbliche Welt
Während die dreifache, sich ewig wandelnde Göttin für die kosmische und irdische Natur steht, repräsentiert der Heros ihr gegenüber den Menschen. Aus einer patriarchalen Prägung heraus, fällt es vielen schwer, in der Frau (Hohepriesterin oder Sakralkönigin), die im Kultdrama die Göttin verkörpert, etwas anderes zu sehen als eine Frau - und gleichsam in dem Mann, der den Heros repräsentiert etwas anderes als einen Mann. Oft wird angenommen, es gehe hier um eine Frau-Mann-Geschichte, in welcher der Mann stets abhängig bleibt von der Frau und ihr gegenüber abgewertet wird. Wir haben es hier aber mit mythologischen Bildern zu tun, die im Kultdrama abgebildet werden, als eine Art "Schauspiel". Wobei es weniger um eine Darbietung vor Publikum geht als um das gemeinsame Erleben eines Rituals. Im Kultdrama ist die Frau keine Frau, sondern ein Typ, der die unsterbliche Natur zum Ausdruck bringt, die sich aus sich selbst heraus immer wieder neu gebiert. Und gleichsam ist der Mann im Kultdrama kein Mann, sondern ebenfalls ein Typ, der Heros, der für die sterbliche Welt, das heisst für Frauen, Männer und Kinder, Tiere und Vegetation gleichermassen steht. Er erlebt die verschiedenen Lebensstadien Geburt, Wachstum, Liebe, Sterben und Wiederkehr und steht während seiner glücklichen Jenseitsreise für sein Volk ein.
Der Heros erscheint in Bezug auf die Göttin
So wie die Menschen auf die göttliche Natur bezogen sind, ist der Heros auf die Göttin bezogen. Deshalb ist seine Gestalt weniger komplex. Wenn die Göttin das Universum ist, erscheint der Heros häufig als Sonne (vgl. Nut und Re, Altägypten). Wenn sie das Land verkörpert, ist der Heros symbolisch eng mit dem Wasser oder der Vegetation verbunden (vgl. Demeter und Iakchos-Dionysos, Kreta). Zeigt sich die Göttin in Gestalt eines ihrer heiligen Tiere, so ist der Heros oft das männliche Tier (vgl. Hera in ihrer Erscheinung als Kuh und der kretische Stier, Kreta). Und wenn sich die Göttin in ihrem Unterweltsaspekt zeigt, ist das Symbol des Heros meistens eins ihrer Unterwelttiere, oder der Heros wird zum Herrn der Unterwelt, wie wir es beispielsweise bei Isis und Osiris (Altägypten) sehen können.12
Der Dialog mit der Göttin
Die jahreszeitlichen Zeremonien bilden in erster Linie die Vorgänge in der Natur ab. In unseren Breitengraden das Wachsen und Werden im Frühling, Höhepunkt der Liebes- und Lebenskraft im Sommer, Welken und Sterben im Herbst, Wiederkehr und Neubeginn im Winter.13 Diese Prozesse werden unter Beteiligung der ganzen Gesellschaft in einem grossen Kultdrama, das ein ganzes Jahr und meistens auch verschiedene Schauplätze umspannt, wirkungsvoll in Szene gesetzt und jährlich wiederholt. Im klassischen Griechenland wurden im Zuge der Patriarchalisierung denn auch Regeln zur Unterbindung eben dieser Kultdramen und Jahreskreisfeste eingeführt, indem das ursprünglich spirituelle Drama zunächst einmal zum fiktiven Theater mit Schauspielern und Publikum umgeformt und dann auf einen Ort, einen Tag und eine Handlung reduziert wurde.14
Magie in ihrer ursprünglichen Bedeutung
Die Kommunikation mit der göttlich verstandenen Natur ist aber kein Theater, sondern komplexe magisch-rituelle Praxis mit einem Lebewesen, das als begeistet und beseelt erlebt wird. Hier ist Magie in ihrer ursprünglichsten Bedeutung nicht als fauler Zauber oder als Aberglaube zu verstehen, sondern sie beruht auf einer ganzheitlichen Haltung, aus der heraus der Dialog mit Individuen, Gesellschaft und Natur gleichermassen möglich ist. Der Dialog mit der Göttin, also der irdischen und kosmischen Natur, erfolgt über Magie in diesem Sinn, über Symbole, und wird durch die Kultdramen im Jahreskreislauf beständig aufrecht erhalten. Dieselbe Form von Magie kommt auch in kleineren Ritualen, bei der Heilung von Kranken oder beim Verrichten alltäglicher Tätigkeiten zum Ausdruck.15
Die Heilige Hochzeit
Nach der Zeit der Wiedergeburt und des Neuanfangs beginnt im Frühling die Zeit des Wachsens. Es ist die Zeit der weissen Göttin, der Initiation, der Wettspiele und Prüfungen, über die der männliche Partner der Göttin nicht nur Wahl und Einführung in die sozialen und sakralen Würden erfährt, die er im Verlauf des jahreszeitlichen Kultdramas repräsentiert, sondern auch seinen freien Willen für dieses sakrale Amt bekundet. Ein Mann, der sich aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sieht, als Heros auch die Vergänglichkeit zu verkörpern und sich auf die glückliche Jenseitsreise zu begeben, braucht diese Rolle nicht zu bekleiden – es genügt, sich in den Wettspielen nicht besonders hervor zu tun und andere gewinnen zu lassen. Die Initiation ist zugleich auch die Verleihung der sakralen Königswürde. Im Sommer feiern die rote Göttin und ihr Heros (Sakralkönig) die Heilige Hochzeit (Hieros Gamos), wobei die vorrangige Bedeutung dieses Rituals darin besteht, die Verbindung zwischen der Göttin und ihren Menschenkindern zu erneuern und gleichzeitig auch alle Verschiedenheiten, Gegensätze und Polaritäten der Welt harmonisch zu vereinigen, damit sie nicht auseinander bricht – denn nach matriarchalem Weltverständnis sind es Liebe und Eros, die die Welt im Innersten zusammen halten. Diese Zeremonie ist deshalb so besonders wichtig.
Der Sohn-Geliebte
Auf die Heilige Hochzeit folgt im Herbst die Zeit der Wandlung und der schwarzen Göttin. Der Heros, der die Menschen auch in ihrer Sterblichkeit repräsentiert, kehrt in die Anderswelt zurück, wo er seine glückliche Jenseitsreise antritt, auf der er sich magisches Wissen aneignet und weise wird, eine Zeit der unterirdischen Fülle erlebt und schliesslich umgewandelt und durch die Wiedergeburt verjüngt ins Leben zurückkehrt. Seine Wiederauferstehung erfolgt in seinem Nachfolger, der ganz konkret als Inkarnation seines Vorgängers gilt.16 Im zyklischen Jahresverlauf, in welchem die Göttin sich in ihren verschiedenen Aspekten zeigt, ist der Heros, der sich ebenfalls wandelt, Sohn der Göttin, aber auch Geliebter. Wenn die Heilige Hochzeit nicht stattfindet, kann zu Mittwinter auch die Wiedergeburt des Sonnenkindes (Heros) nicht erfolgen. Der Heros ist in diesem Sinne direkt an seiner eigenen Wiedergeburt beteiligt. In patriarchalen Zusammenhängen ist später daraus das „lineare Missverständnis“ von Ödipus als jungem Mann, der mit der eigenen Mutter schläft, entstanden.
Die Aspektive
In Zaubermärchen, wie auch im gesamten matriarchalen Weltbild, kann ein und dieselbe Person oder Sache von ganz verschiedenen Seiten her betrachtet werden. Dabei treten unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund, wobei es sich aber immer um eine Person handelt, die man nicht in ihre Einzelaspekte spalten kann (Aspektive). So erscheint zum Beispiel der Heros ähnlich wie die Göttin mehrgestaltig, ist im zyklischen Verlauf einmal Geliebter und einmal Sohn der Göttin. In der Aspektive zeigt sich das magische matriarchale Weltbild, in welchem alles mit allem verbunden ist. Erst im Verlauf der Patriarchalisierung werden diese Einzelaspekte abgetrennt und verfremdet, insbesondere die Aspekte der Dreifaltigen Göttin auseinander gerissen und isoliert in den Dienst des neuen Herrschersystems gestellt: Die Greisingöttin wird zur „bösen Hexe“, zur „Dämonin“, aus der Muttergöttin wird wahlweise die „Heilige“ oder die „Hure“, Mutterschaft und Sexualität werden ideell getrennt und die Mädchengöttin wird (wie z.B. im Fall von Athene) zur „Schlachtenjungfrau“, die Kriege und Gewalt legitimieren soll. Dem Heros ergeht es ähnlich. Häufig wird er dämonisiert und zum „Teufel“ gemacht oder einfach als „Dummling“ dargestellt.17
Literatur =>
1 Göttner-Abendroth 2011b, S. 180 f.
2 Schönbacher 2006, S. 55
3 Zit. in Kutter 2010, S. 30 f.; vgl. auch Gimbutas 1989, S. 151 ff.
4 Göttner-Abendroth 2005, S.134 ff.
5 Vgl. Duden 1989
6 Göttner-Abendroth 2011a, S. 18 f.
7 Vgl. Graphik in Derungs 2000, S. 119; (von mir geringfügig geändert)
8 Göttner-Abendroth 2011a, S. 18 f.
9 Göttner-Abendroth 2001, S. 51 ff.
10 Göttner-Abendroth 2001, S. 51 ff.
11 Göttner-Abendroth 2011b, S. 42 ff.
12 Vgl. dazu Göttner-Abendroth 2011b, Teil I
13 Göttner-Abendroth 2011b, S. 46
14 Göttner-Abendroth 2001, S.22 f.
15 Göttner-Abendroth 2011a, S. 18 f.
16 Göttner-Abendroth 2011b, S. 44 ff.
17 Derungs 2010, S. 297 f.