Die Göttin-Heros-Struktur am Beispiel von Tierbraut und Tierbräutigam | Abschlussarbeit Teil 5|8
von dorastochter
Arbeitshypothese
Trotz aller Veränderungen, die das Märchen im Verlauf von grossen Zeiträumen erfahren hat, ist es nach wie vor von dem vorgängig beschriebenen Weltbild durchdrungen. In frühen Epochen der matriarchalen Kultur hatte die Göttin noch keinen männlichen Partner. Ihr phallisches Symbol war die Schlange. Auf Märchen, die eine solche ältere matriarchale Struktur aufweisen, werde ich hier nicht näher eingehen, da ich die Göttin-Heros-Struktur anhand des Beispiels von Tierbraut und Tierbräutigam aufzeigen möchte. Wenn wir davon ausgehen, dass wir in der Tiefe der sogenannten Tierbraut- oder Tierbräutigam-Märchen auf die komplexe Göttin-Heros-Struktur stossen, können wir auch annehmen, dass Tierbraut und Tierbräutigam - in der hier verfolgten kulturgeschichtlichen Deutungsweise - keine einheitliche symbolische Aussage machen, sondern dass beide eine je unterschiedliche Bedeutung haben.
Ausgangslage
Ich gehe davon aus, dass die Tiergestalt im Falle des Tierbräutigams symbolisch für einen totenähnlichen Zustand steht. Der Tierbräutigam unternimmt eine Jenseitsreise, um sich kultisch-magisches Wissen anzueignen und sich dadurch der Göttin anzugleichen. Da er nur durch sie wiedergeboren werden kann, ist es für ihn dringend notwendig, mit ihr als seiner Braut, die Heilige Hochzeit zu vollziehen. Dagegen stellt die Erscheinungsform der Tierbraut für ihren Bräutigam eine (Heirats-)Prüfung dar. Erst wenn er über das erforderliche kultisch-magische Wissen verfügt, kann er mit ihr die Heilige Hochzeit feiern und gemeinsam mit ihr die ewige Wiederkehr des Lebens sicher stellen. Die Struktur eines Tierbraut- oder Tierbräutigam-Märchens ist grundsätzlich die des Zaubermärchens und daher die gleiche: Initiation, Hochzeit, Tod und Wiederkehr. In manchen dieser Märchen sind aber auch Rudimente von tatsächlichen Initiationsriten enthalten. In den Tierbräutigam-Märchen zeigt sich daher oftmals auch ein Initiationsweg für das Mädchen, das zur jungen Frau und in das sakrale Wissen um die Göttin eingeweiht wird oder als Priesterin schliesslich als sakral erhöhte Tochter der Göttin selber gilt. Im Märchen der Tierbraut hingegen steht vor allem der Knabe auf seinem Initiationsweg im Vordergrund, der zum jungen Mann und ebenfalls in das kultisch-magische Wissen seines Volkes eingeweiht wird. Auch hier haben wir es wieder mit einer mehrschichtigen Symbolik zu tun (Aspektive).
Die Initiation
Das magische Weltbild matriarchaler Kulturen, in welchem alles aufeinander bezogen ist, haben wir bereits kennen gelernt. Auch die Initiation der Jugendlichen ist in den Zyklus von Leben, Sterben und Wiedergeborenwerden eingebettet. Die Kindheit ist vorbei, eine alte Identität stirbt und in der Abgeschiedenheit jener Orte, an denen die Initiation stattfindet, werden die Jugendlichen in das Wissen der Erwachsenen eingeweiht, ehe sie mit einer neuen Identität, nun als Erwachsene, in die Gemeinschaft zurück kehren. In matriarchalen Kulturen wird dieses zentrale Ereignis in der Entwicklung eines Menschenlebens mit Ritualen begleitet, die beim Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben helfen. Dabei wird die Wandlung in Ritualen symbolisch dargestellt.
Einweihung ins Erwachsenenleben
Wie wir aus der Ethnologie wissen, erfolgt der klassische Initiationsritus in drei Phasen.1 Zunächst werden die Jugendlichen auf das eigentliche Ritual vorbereitet. Dann werden die Initiandinnen und Initianden an einen besonderen Ort geführt, beispielsweise in den Wald oder eine Hütte, die vom Rest der Gemeinschaft abgeschieden ist. Die Türen dieser Hütten haben manchmal eine Rachenform, da die Menschen sich das Sterben früher auch als ein Verschluckt- oder Verschlungenwerden vorgestellt haben. Der Gang in den Wald oder in die Hütten mit Rachen-Tür symbolisiert das Sterben der InitiatndInnen. In dieser Phase stehen diese denn auch in enger Verbindung mit den Ahninnen und Ahnen. Vom Rest der Gemeinschaft abgeschirmt werden die InitiandInnen dann ins Erwachsenenleben eingeweiht, in tradierte Weisheiten, kultisch-magisches Wissen, Stammesgeschichten, in die Sexualität, in Fragen des menschlichen Zusammenlebens, in Traditionen, wichtige alltägliche Verrichtungen und vieles mehr. Um das Leben verstehen zu können, muss die Begegnung mit dem symbolischen Tod unbedingt stattfinden. Erst danach werden die InitiandInnen in einer dritten Phase als neue Menschen aus dem Rachen wieder ausgespuckt und damit aus dem Schoss der Erde und der symbolischen Jenseitswelt wieder entlassen. Nach der erfolgten Wiedergeburt kehren sie in die Gemeinschaft zurück und bekleiden als Erwachsene einen neuen Status.2
Zwei Sequenzen
Wichtige Übergänge wie Geburt, Initiation, Hochzeit und Tod werden immer in ihrer Analogie zu den Veränderungen in der Natur gesehen. Deshalb ist die Aussage, die ein Märchen in seiner Tiefenstruktur macht, durchaus mehrschichtig. Grundlegend treffen wir im Zaubermärchen auf zwei Sequenzen, wovon die erste Sequenz (erster Teil) in etwa folgende Stadien aufweist: Zunächst besteht ein Verlust, eine Bedrohung oder ein Wunsch, der zum Aufbruch der Heldin oder des Helden und auf einen Initiationsweg durch viele Prüfungen hindurch führt, daraufhin kommt es zur glücklichen Heimkehr und Hochzeit. In der zweiten Sequenz folgt auf eine gefahrvolle Situation nach der Hochzeit die Entrückung des einen Partners in einen totenähnlichen Zustand, worauf sich der andere Partner auf eine lange Suche begibt, die durch die Unterwelt (Anderswelt, Jenseitswelt) führt, bis schliesslich Auffinden und Erlösen (oder Rehabilitation) des Partners gelingen und die gemeinsame, glückliche Rückkehr erfolgen kann.3
Märchenauswahl
Die Märchen des mittel- und westeuropäischen Raums sind häufig stärker transformiert als die Varianten in osteuropäischen oder russischen Gebieten. Dies zeigt sich am stärksten im Fehlen der gesamten zweiten Sequenz, wie wir es gerade bei Märchen, die mythische Frauengestalten zum Inhalt haben, sehen – das betrifft beispielsweise „Dornröschen“, „Schneewittchen“ oder „Aschenputtel“. Da das Märchen aber den ganzen Jahreskreislauf und die damit verbundene rituelle Dramaturgie abbildet, ist es ohne die zweite Sequenz nicht mehr vollständig und daher auch schwierig zu deuten. Zudem verfälscht sich seine Aussage ohne den Vergleich mit vollständigen Varianten erheblich – wenn das Märchen mit der Hochzeit endet und diese nicht mehr in ihrem ursprünglichen rituellen Zusammenhang verstanden wird, erscheint sie für die Heldin und damit für die Mädchen und jungen Frauen als das einzig erstrebenswerte (Lebens-)Ziel.4 Ich werde daher im Folgenden vorwiegend mit Märchen aus dem osteuropäischen und russischen Raum arbeiten, die beide Sequenzen enthalten.
Russische Märchen
Die Erzählweise ist gegenüber der deutschen sehr viel bunter und impulsiver und zeugt von einer grossen Freude am Fabulieren, Übertreiben und Ausschmücken. Insbesondere in den russischen Märchen finden wir eine Lust am Leben abgebildet, wie sie in den Grimm‘schen Märchen kaum denkbar wäre. Die Grundstruktur der osteuropäischen und russischen Zaubermärchen geht aber ebenfalls auf eine matriarchale Kultur zurück, weshalb sich diese für eine Untersuchung bestens eignen.5
Deutsche Sprachinseln in Osteuropa und Russland
Zudem können wir gerade für diesen geographischen Raum von einer grossen gegenseitigen Durchdringung der Märchen ausgehen, da aus Gründen der Siedlungspolitik seit dem 12. Jahrhundert über Jahrhunderte hinweg immer wieder Scharen von Menschen gerade aus deutschem Sprachgebiet gegen Osten gezogen sind und sich dort niedergelassen haben. Entsprechend finden wir bis zu den Veränderungen durch den Zweiten Weltkrieg im ganzen osteuropäischen Raum sowie auch im südlichen Russland (ehemalige UDSSR) Deutsche Sprachinseln. Die Siedlungsgeschichten fallen für die einzelnen Gebiete durchaus unterschiedlich aus und gehen längst nicht alle auf Auswanderungswellen im 12. Jahrhundert zurück. Eine genauere Untersuchung lohnt sich meines Erachtens aber allemal, denn es liegt hier ein grosses Potential für die Erzählforschung. Häufig haben die mündlich überlieferten Zeugnisse in der sprachlichen Isolation nicht dieselben Transformationen durchlaufen wie in Mittel- und Westeuropa – so konnte zum Beispiel „die Tödin“ in der Kremnitzer Sprachinsel überdauern, während sie hier im deutschsprachigen Europa zum Sensenmann wurde.6
Literatur =>
1 Becker 1990, S. 26 ff.
2 Schönbacher 2006, S. 22 ff.
3 Göttner-Abendroth in Fiebig 2004, S. 57
4 Göttner-Abendroth in Fiebig 2004, S. 57
5 Vgl. dazu insgesamt Schönbacher 2006; Gobrecht 1990, Einleitung
6 Hanika 1961, vgl. auch Cammann 1967, Vorwort