Die Göttin-Heros-Struktur an den gezeigten Beispielen | Abschlussarbeit Teil 8|8
von dorastochter
Unterschiedliche mythologische Typen
An den Beispielen konnten wir sehen, dass sich die Tiefenstruktur des Zaubermärchens recht gut verfolgen lässt – trotz der vielen Veränderungen, Ausschmückungen und Weglassungen, die das Märchen im Verlaufe der Zeit erfahren hat. Wir haben Tierbraut und Tierbräutigam als verschiedene mythologische Typen kennengelernt, bei denen es sich nicht um ein- und die dieselbe Symbolik handelt, wie es die allgemeine, insbesondere psychologische, Deutung gängiger Weise vorschlägt, sondern einerseits um den Heros als Tierbräutigam, der die verschiedenen Mysterien (Initiation, Heilige Hochzeit, Tod und Wiedergeburt) an sich erfährt und um die Göttin als Tierbraut andererseits, die ihren Heros prüft und an ihrem Kosmos teilhaben lässt.
Tierbraut und Tierbräutigam im allgemeinen Verständnis
Unter Einbeziehung der geschichtlichen Dimension, erweist sich die vorherrschende Annahme, es handle sich bei Tierbraut und Tierbräutigam um ein- und dieselbe Symbolik - im Sinne eines tierhaften Triebes, der erst durch emotionale Zuwendung in die rechten Bahnen gelenkt werden muss, ehe Mann und Frau in erfüllter Liebe miteinander glücklich werden können, als nicht haltbar. Um ein Beispiel zu geben, sei hier der Germanist Winfried Freund zitiert, der im Dumont-Schnellkurs "Märchen" unhinterfragt behauptet: "Der Tierbräutigam verkörpert den triebhaften Aspekt der Sexualität, die es vor der Eheschliessung durch die Liebe zu läutern gilt."1 Die Tierbraut komme seltener vor und sei im Gegensatz zum Tierbräutigam niemals abstossend, sondern reizvoll und anmutig. Freund verweist auf Schlangenfrauen und Schwanenjungfrauen, die angeblich die unbewusste Schönheit der Natur zum Ausdruck bringen und sich erst durch die Liebe des Mannes in der menschlichen Gemeinschaft vollenden. Ich halte eine solche Deutung für äusserst fragwürdig. Dass Freund die Frau bzw. das Weibliche hier wieder einmal erst durch den Mann bzw. das Männliche vollendet sieht, steht ganz in der Tradition patriarchalen Denkens und hat mit der ursprünglichen, matriarchalen Symbolik des Märchens nichts zu tun.2
Abgrenzung
Wie der Mensch überhaupt in die Situation kommt, Liebe und Sexualität voneinander zu trennen, bleibt bei Freund und Vertretern ähnlicher Deutungsansätze gänzlich offen. Hier wird ein Bild, die Tierbraut bzw. der Tierbräutigam, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst, in einen heutigen Kontext eingefügt und dann aus dem gerade aktuellen Zeitgeist heraus interpretiert. Wie wir gesehen haben, spricht aus den Märchen aber ein Weltbild, in welchem Trennungen solcher Art eben gerade nicht existent sind. Da Sexualität nicht dämonisiert ist, muss sie auch nicht abgespalten und somit auch nicht später durch ideale Werte überwunden oder ergänzt werden. Ein weiterer Beleg sei hier die Arbeitsweise der Brüder Grimm, welche gerade die erotischen Stellen systematisch reduziert haben, weil sie mit der moralischen Vorstellung des Biedermeier nicht vereinbar waren. Im Weiteren ist durch den Deutungsansatz der Psychologie weder die regelmässige Struktur der Tierbraut- und Tierbräutigam-Märchen zu erklären, noch deren Variantenvielfalt.
Göttin und Heros
Auf unserem Streifzug haben wir gesehen, dass die Göttin verschiedene Gestalten annehmen und sich aus sich selbst heraus auch in ein Tier verwandeln kann, während die Tiergestalt des Heros einen totenähnlichen Zustand anzeigt, den er nur durch die liebevolle Verbindung mit der Göttin überwinden kann. Weiter konnten wir nachvollziehen, wie im Märchen vom Tierbräutigam die Heldin ihre Initiation erfährt, im Märchen von der Tierbraut hingegen der Held. Dabei dürfte auch klar geworden sein, dass wir im Fall der Tierbraut keine verwunschene Prinzessin vor uns haben, die von ihrem Prinzen erlöst werden muss, sondern die unsterbliche Göttin (als kosmische und irdische Natur), die ihren Menschenkindern die ewige Wiedergeburt garantiert, denn sowohl in den Tierbraut- als auch in den Tierbräutigam-Märchen ist sie es, die den Heros zurück ins Leben führt. Dabei sind wir auch der vielschichtigen matriarchalen Symbolik begegnet, die aus dem magischen Weltbild hervorgeht, in welchem alles mit allem verbunden und vielfach aufeinander bezogen ist.
Ein paar Worte zum Schluss
Ich hoffe mit dieser Arbeit gezeigt zu haben, welches Potential die Moderne Matriarchatsforschung für Erzählforschung und Erzählkultur bereit hält. Denn mithilfe fundierter Kenntnisse über matriarchale Kulturen und deren Weltbild lassen sich Märchen nicht nur in ihrem ursprünglichen Sinn wieder verstehen, sondern auch restaurieren. Märchen entwickeln eine faszinierende Lebendigkeit, wenn sie frei erzählt werden – weshalb in jüngerer Zeit wieder vermehrt ein Interesse daran besteht, sie aus ihren „Buch-Gräbern“ zu befreien und ins Mündliche zurückzuführen. Erzählerinnen und Erzähler lernen keine Texte auswendig, sie verinnerlichen ein Märchen entlang seines Merkmusters, das in magischen Bildern erfolgt und geben es in ihrer eigenen Sprache wieder. Dabei wird aber nicht der Inhalt verändert, sondern lediglich die sprachliche Form. Die Englische Redewendung „to know it by heart“ bringt es auf den Punkt – Märchen werden von Herz zu Herz weitergegeben, von Mund zu Ohr. In diesem Sinne sind die Erzählenden vielmehr Medium für eine Erzählgemeinschaft als Performer gegenüber eines passiven Publikums. Das aktive Hören eines Märchens führt erst zum Erleben der erzählten Geschichte. Es bleibt zu hoffen, dass Erzählerinnen und Erzähler der heutigen Zeit nicht nur an der Wiederbelebung des Märchens arbeiten sondern auch an seiner Rückführung in die angestammten Sinnzusammenhänge. Dies kann aber nur auf dem Boden eines vertieften Wissens geschehen, wenn Veränderung nicht willkürlich erfolgen soll. Ich möchte hier mit einem Zitat von Rudolf Geiger (1908 – 1999) schliessen, einem grossartigen Erzähler, der gegen hundert (!) Märchen in seinem Herzen trug:
„Unsere gedruckten Märchen gleichen Partituren. Sie liegen verschlossen in den Seiten eines Buches, wenn nicht tot, so doch erstarrt. Sie existieren, aber ihr Dasein gleicht einem verwunschenen Schlaf. Unsere Aufgabe als Erzählende ist es, sie daraus zu erwecken. Lesen wir sie, bedeutet dies durchaus eine Annäherung, wir holen sie in unsere Vorstellung herauf, wir nehmen zur Kenntnis. Aber Lesen bleibt eine einsame Kunst. Mag sein, das Märchen regt sich, aber im Für-sich-Lesen kommt es kaum zum wirklichen Erwachen. Erst das gesprochene Wort verleiht ihm Leben und Gestalt, es entsteht vor den Ohren der Hörenden Handlung, und es entsteht im Hören Gemeinschaft. Im gesprochenen Wort vibriert der ganze Mensch, denn im Sprechen wird der Mensch selbst zum Handelnden. Wir wissen, das Volksmärchen kennt keine Abstraktion, es ist reine Handlung, die sich zwischen den Agierenden, den menschlichen und übermenschlichen Wesen abspielt. Es genügt nicht, dass der Erzähler sein Märchen gut auswendig lernt, wobei Auswendiglernen bereits ein ganz unzulänglicher Ausdruck ist; im Lernen liegt ja ein In-sich-herein-Nehmen, man muss in das zu Lernende eindringen. Bis ein Märchen wirklich Eigentum des Erzählers wird, können nach den Stunden des Lernens noch Wochen und Monate vergehen. Er erzählt es am Abend zunächst sich selbst, umkreist im Alleinsein mit dem Märchen das menschlich Bewegende, das ihn darin angezogen hat, dann geht er mit ihm in den Schlaf. Er wird am Morgen mit ihm erwachen. Das kann sich eine längere Zeit hinziehen, aber nur so, wage ich zu sagen, wird es Substanz seines eigenen Wesens; erhält es Kraft, Gewicht und Überzeugung. Das geduldige innere Umkreisen erfüllt nach und nach Wort für Wort das Gelernte mit Leben. Es wird zum staunenden Erkennen. Der Lernende wird so vom Liebhaber zum Kenner seines Märchens und erprobt sich schliesslich als Erzähler.“ (Rudolf Geiger)
Literatur =>
1 Freund 2005, S. 153
2 Ähnliche Aussagen wie jene Freunds finden wir auch im "Wörterbuch der Märchensymbolik" von Felix von Bonin und bei vielen anderen, vgl. Bonin 2009, S. 309 f.
3 Göttner-Abendroth 2011b, S. 201 ff.