Das Märchen im öffentlichen Bewusstsein | Abschlussarbeit Teil 1|8
von dorastochter
Die Faszination des Märchens
Die Frage nach der Faszination der Märchen1 und deren Ursprünge wurde schon oft gestellt und in durchaus unterschiedlicher Weise beantwortet. Letztlich beinhaltet sie bereits die Frage danach, was ein Märchen überhaupt ist. Eine unterhaltsame, phantastische Geschichte mit Happy End? Eine Erziehungshilfe im Umgang mit Kindern nach Vorlage der Brüder Grimm? Echte deutsche und vor allem uralte Volkspoesie? Romantische Geschichten für schlichte Gemüter? Etwas, das zum Instrumentarium der Psychoanalyse gehört? – Das in etwa sind die Vorstellungen, die sich im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit um das Thema Märchen ranken.2
Märchen sind keine Kindergeschichten
Dass die magische Vorstellung von der Welt, wie wir sie bei Kindern beobachten können, eine ähnlich enge Verwandtschaft mit der besonderen Bildsprache des Märchens aufweist wie manche psychisch-seelischen Ausdrücke (z.B. jene des Traums), lässt sich kaum von der Hand weisen. Dennoch sind Märchen in ihrem ursprünglichen Sinn weder Kindergeschichten noch per se psychologisch zu erschliessen. Die besondere Affinität zwischen kindlichem Erleben, psychisch-seelischen Bildern und der magisch anmutenden Bild-Sprache des Märchens lässt sich vielmehr durch soziale und sozialhistorische Zusammenhänge erklären. Denn die Trennung zwischen Mensch und Natur, zwischen magischem Erleben und strenger Ratio, zwischen Körper, Seele und Geist ist kultur-künstlich, also historisch gewachsen; weshalb Kinder während ihrer Sozialisation denn auch erst lernen müssen, diese Trennungen vorzunehmen. Sie sind dem schamanistischen Weltbild, das den Märchen zu Grunde liegt, von Natur aus näher, eben weil sie sich noch als ein Teil des Ganzen erleben und mit den anderen Geschöpfen, seien es nun Elemente, Pflanzen, Tiere oder Menschen, ganz selbstverständlich in Dialog treten.
Das Märchen zeigt klare Strukturen
Die in unserer Zivilisation sozialisierten Menschen mögen zwar an ihre kulturelle Umgebung angepasst sein, auf der psychisch-seelischen Ebene trifft man aber nach wie vor auf eine ähnliche Ausdrucksweise, wie sie diese Menschen als Kind schon hatten und wie wir sie eben auch in den Märchen erkennen. Anders als in seelisch-psychischen Räumen oder der kindlichen Phantasie, treffen wir im Märchen jedoch auf ganz klare Strukturen und eine komplexe Symbolik, wodurch sich das Märchen von blossen phantastisch motivierten Spielereien und einem willkürlichen Zusammensetzen von magischen Bildern klar abgrenzt.
Zum Wahrheitsgehalt von Märchen
Auch wenn sich eine Mythe oder ein Märchen sicherlich nie eins zu eins so zugetragen hat, wie sie erzählt wird, zumal manche Ereignisse im Märchen den Naturgesetzen schlicht und ergreifend widersprechen, so haben wir es doch mit Stoffen zu tun, die auf tatsächlichen Realitäten basieren. Denn als Gedächtnis einer schriftlosen Kultur transportieren Mythen und Märchen kulturelle Inhalte und historische Begebenheiten in Form von Bildern, die sich zur zuverlässigen mündlichen Weitergabe besonders gut eignen. Wir treffen also tatsächlich auf einen Wahrheitsgehalt im Märchen. Diesen zu erschliessen ist Aufgabe der kulturhistorischen Erzählforschung.
Ideologische Vereinnahmungen
Eine weitere, mit dem oben Gesagten teilweise einhergehende Verständnisschwierigkeit rund um das Märchen, ergibt sich aus der Vereinnahmung der Erzählforschung durch verschiedene historische und zeitgenössische Ideologien wie z.B. jene von bürgerlicher, anthroposophischer, sozialistischer, faschistischer, theologischer, pädagogischer oder von psychologischer3 Seite her. Diese sehr verschiedenen Auffassungen vom Märchen hinterlassen alle ihre Spuren im allgemeinen Bewusstsein, wo sie jene oben angesprochene, insgesamt eher diffuse Vorstellung ergeben. Ehe ich auf den kulturanthropologischen bzw. sozialhistorischen Deutungsansatz zu sprechen komme, der meines Erachtens sehr erhellende und weiterführende Erklärungen liefern kann, möchte ich hier einen kurzen historischen Abriss doch wenigstens über jene Einflüsse liefern, die das heutige Bild vom Märchen im öffentlichen Bewusstsein am entscheidendsten mitbestimmen.
Das Märchen in der Romantik
Die Romantiker des 19. Jahrhunderts prägten den bis heute ungeklärt gebliebenen Begriff der „Volksseele“. Sie stellten dem strengen Rationalismus der Aufklärung die „Kräfte des Gefühls“ und die „Erhebungen der Seele“ entgegen. Obwohl Märchen in der Romantik als abgesunkene Mythen galten, begannen Dichter die mündlich überlieferten „Volksmärchen“ in ihrem Stil nachzuahmen und die literarische Gattung des Kunstmärchens zu etablieren. Zudem setzte eine rege Sammeltätigkeit und Verschriftung von Märchen ein, dank welcher viele Märchen, nachdem sich die traditionelle mündliche Weitergabe zunehmend verlor, überhaupt erhalten geblieben sind.
Das romantische Postulat
Gemäss dem romantischen Postulat ist das Märchen Teil einer „wahren Wirklichkeit“, die hinter der sichtbaren Welt verborgen liegt und sich rein durch Phantasie erschliesst. Die Antwort der Romantiker auf die Diskrepanz zwischen den Idealen, wie sie in der Französischen Revolution verkündet wurden und der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität, ist nachvollziehbar. Zum einen wurde nun die innere Welt als eigentlicher Raum menschlicher Selbstverwirklichung gepflegt, zum anderen begegnete man dem Zeitgeist, der massgeblich durch die einsetzende Industrialisierung und die aufstrebenden Naturwissenschaften mit ihrem nüchternen Blick auf eine geist- und seelenlos verstandene Natur geprägt war, mit melancholisch-sentimentaler Haltung („Weltschmerz“) und mit Sehnsucht nach dem Unendlichen, Geheimnisvollen und Mystischen.4 Aber gerade durch diese verklärte Haltung wurde das Märchen als ein Spielball der Phantasie zunehmend zur Fiktion.
Psychologie und Psychoanalyse
Die romantische Vorstellung vom Märchen, das mehrheitlich als phantastische Gestaltung von Erzählstoffen aufgefasst wurde, in denen sich aber uralte, mythologische Motive erhalten haben, war weit verbreitet und wurde teilweise bis in unsere Zeit hinein tradiert.5 Wenig später haben diese Idee vom Symbolcharakter des Märchens, das mit Mythen durchsetzt ist, auch Sigmund Freud (1856 – 1939) und C.G. Jung (1857 – 1961) aufgegriffen. Ihre psychoanalytischen Theorien, mit denen sie nicht zuletzt auch Motive und Märchen zu erklären versuchten, erfreuen sich noch heute erstaunlicher Popularität. Erstaunlich deshalb, weil sich Psychologie und Psychoanalyse wohl zur Untersuchung der menschlichen Psyche eignen mögen, nicht aber zur Erforschung historischen Materials, wie es uns in Form der Märchen vorliegt. Sicherlich kann das Märchen, auf einer individuellen Ebene betrachtet, gelegentlich auch wertvolle Aufschlüsse zum Verständnis der Psyche eines einzelnen Menschen liefern. Nur vermögen die diversen psychologischen Richtungen mit ihrem Deutungsansatz weder plausibel zu erläutern, woher das "kollektive Unbewusste" stammen soll, welches die "archetypische" Symbolik der Märchen überhaupt erst in den Stand genereller Gültigkeit erhebt, noch die Kulturgeschichte des Menschen als Ganzes zu erklären. Der Kulturanthropologe Kurt Derungs hat mit seinem Buch "Der psychologische Mythos. Frauen, Märchen und Sexismus" eine ebenso kritische wie aufschlussreiche Analyse zum populärpsychologischen Umgang mit Märchen vorgelegt.6
Die Brüder Grimm
Wenden wir uns aber noch einmal der Zeit der Romantik und des Biedermeier und damit den Brüdern Jacob Grimm (1785 – 1859) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859) zu. Kaum jemand dürfte das heutige Bild des Märchens im öffentlichen Bewusstsein so nachhaltig geprägt haben wie sie. Der Erfolg ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) reicht weit über das deutsche Sprachgebiet hinaus und hat als Vorlage für diverse Walt Disney-Filme selbst Hollywood erreicht, ja, sie gehören zu den weltweit am weitesten verbreiteten Schriften deutscher Literatur überhaupt.7 Die wenigsten sind sich allerdings bewusst, dass es sich bei der Grimmschen Märchensammlung keineswegs um reine Niederschriften mündlich überlieferter Märchen aus dem „Volksmund“ handelt, sondern um durchaus redaktionell stark überarbeitete Texte, deren Motive zu mehr als zwei Dritteln (Ausgabe der KHM von 1857) aus schriftlichen Quellen stammen oder eine enge Verwandtschaft mit literarischen Vorlagen zeigen. Textliche Überarbeitungen insbesondere von Wilhelm Grimm erfolgten durch wörtliche Übernahmen aus anderen Texten, Zusammenfügen mehrerer Varianten zu einer einzigen Fassung sowie eine umfassende sprachliche Umgestaltung. Die Grimms waren auf der Suche nach echter deutscher Mythologie und Volkspoesie – was sie aber fanden war eine Fülle von verschiedenen Varianten, internationalen Typen und Versionen, denen sie gerecht werden wollten.8
Fiktionalisierung des Märchens
Anders als andere „Märchensammler“, im russischen Raum etwa Aleksander Afanasjew (1826 – 1871), in Siebenbürgen (Rumänien) Josef Haltrich (1822 – 1886) oder in Norwegen Peter Christian Asbjørnsen (1812 – 1885), um nur einige zu nennen, griffen die Brüder Grimm in hohem Masse verändernd in die ihnen vorliegenden Texte ein. Auch die Brüder Grimm haben durchaus erkannt, dass das ihnen vorliegende Material mythischen Gehalt aufweist. Die Frage stellt sich nur, warum sie dieses kostbare Kulturgut nicht auf seinen ursprünglichen kulturellen Kontext hin untersucht haben, sondern es im Gegenteil aus eben dieser geschichtlichen Einbettung heraus lösten. Die künstliche Trennung zwischen Mythen und Märchen und die damit einhergehende Einführung des Märchens als einer neuen Gattung geht überhaupt erst auf die Romantiker, insbesondere auf die Brüder Grimm, zurück.9 Als Märchen wurde der mythologische Stoff in die Fiktion überführt, durch Verniedlichung infantilisiert und in Richtung Kinderzimmer verlagert und darüber hinaus den moralischen und religiösen Vorstellungen des Deutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts angepasst.
Kritischer Umgang mit Quellen
Eine Märcheninterpretation mit haltbarer Grundlage, erfordert also zwingend einen kritischen Umgang mit den Quellen, wozu auch der Germanist und Erzählforscher Heinz Rölleke ermahnt: „Da greift ein Interpret ein Detail aus dem ihm vorliegenden Text heraus und behängt es mit Zentnergewichten, ohne zu prüfen, wie es sich damit genau verhält. Das ist in meinen Augen der Krebsschaden auch noch der neuesten Märchenforschung, und es bekümmert mich, dass man ihm augenscheinlich kaum zu Leibe rücken kann. Es ist die Haltung vor allem der psychoanalytisch, aber auch der soziologisch oder auf andere Weise einseitig ausgerichteten Deuter gegenüber den philologischen Grundfragen und dem textkritischen Vorverständnis... Wenn man auf Grundschichten des eigentlichen Volksmärchen rekurriert, darf man nicht blindlings etwa die Ausgabe letzter Hand der Brüder Grimm von 1857 als Textvorlage benutzen, sonst gerät man an vielen Stellen in Gefahr, bestenfalls die Psyche und die Sozialkonditionen Wilhelm Grimms oder seiner Zeit zu interpretieren, wo man sich beredet, man lausche dem Urquell des Volksmärchens.“10
Zusammenfassung
Zusammenfassend können wir feststellen, dass im 19. Jahrhundert eine rege Sammeltätigkeit und von verschiedener Seite her eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Märchen einsetzt, dieses als mythologischer Stoff verstanden und als vom „Volksmund“ überliefertes Kulturgut aus „uralter Zeit“ angesehen bzw. romantisch verklärt wird – und dass die sich hier anbietende kultur- und sozialgeschichtliche Forschung weitgehend ausbleibt. Daraus ist Tradition geworden, die das Bild vom Märchen im öffentlichen Bewusstsein bis heute bestimmt. Die kritischen Stimmen von kulturanthropologischer Seite finden inmitten einer Fülle von populärpsychologischen und esoterischen Deutungsansätzen noch immer vergleichsweise wenig Gehör11 und der Eindruck vom Märchen als phantastische, freischwebende Daseinsform ohne zeitliche und konkrete kulturelle Anbindung hält sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch wacker aufrecht.12 Als solche ist das Märchen denn auch jeglichem „spielerischen Umgang“ samt der daraus resultierenden willkürlichen Verzerrungen preis gegeben, wie nicht zuletzt die jüngsten Schneewittchen-Spielfilme belegen, von denen in den USA im Jahr 2012 gleich drei erschienen sind.13
Literatur =>
1 Mit „Märchen“ sind hier durchgehend die sog. „Zaubermärchen“ gemeint (keine Sagen, Schwänke, Parabeln, Fabeln o.ä)
2 Diese Eindrücke beruhen auf der Befragung zufällig gewählter Menschen verschiedenen Alters, der Befragung der TeilnehmerInnen eines Einführungsseminars und eines mehrjährigen Erzählkurses der Märchenschule Mutabor, Lützelflüh (2011 und 2012), sowie der Lektüre verschiedener häufig abgefragter Bücher zum Thema Märchen, wie etwa Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, Winfried Freund, Dumont Schnellkurs Märchen oder Erich Fromm, Märchen, Mythen, Träume.
3 Vgl. Derungs 1996, S.7
4 Vgl. Nürnberger 1999, S.156
5 Pöge-Alder 2011, S. 218
6 Derungs 1996, gesamthaft
7 Pöge-Alder 2011, S. 122
8 Derungs 2010, S. 11 ff.
9 Göttner-Abendroth in Fiebig 2004, S.50
10 Zit. in Derungs 2010, S. 17 f.
11 Derungs 1996, S. 7
12 Göttner-Abendroth in Fiebig 2004, S.50
13 Mirror Mirror von Tarsem Sign (Relativity Media, USA 2012); Snow White and the Huntsman von Rupert Sanders (Roth Films, USA 2012) und Grimms Snow White von Rachel L. Goldenberg (The Asylum, USA 2012)