Herbst: Erntedank und Totentanz
von dorastochter
Bunt sind schon die Wälder
„Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder und der Herbst beginnt...“ heisst es im bekannten Volkslied, das den Herbst in seiner Fülle so treffend beschreibt. Manche lieben diese goldene Zeit des Jahres, andere spüren mehr das Abschiednehmen vom Sommer. Beides ist jetzt da: Fülle und Scheiden, Ernten und Schneiden, Danken und Abschiednehmen. Der Totentanz der fallenden Blätter führt uns nun mehr und mehr in die kalte und dunkle Zeit des Jahres, ins Innere der Häuser, wo die einen und anderen sich über den Winter Märchen erzählen mögen, um sich an ihrem inneren Licht zu wärmen.
Herbstbeginn
Der Herbst beginnt mit der ersten Nacht, die wieder länger ist als der Tag – und bis Mittwinter wird die Dunkelheit nun weiter wachsen. Es wird feuchter und kühler. Was den Sommer über wild ins Kraut geschossen ist, findet jetzt Begrenzung. Es ist die Aufgabe des Herbstes, die materiellen Strukturen aufzulösen, damit es nach einer Zeit der Ruhe und der Umwandlung, wieder einen Frühling und damit neues Leben geben kann.1
Ernte
In keiner anderen Jahreszeit ist die Fülle an Nahrungsmitteln so riesig wie im Herbst. Die Kornernte ist eingebracht, Obst und Kürbisse werden geerntet, Nüsse und Kastanien gesammelt, eingelagert und für den Winter haltbar gemacht. Die Weinlese ist in vollem Gang. Tiere, die nicht über den Winter gebracht und ernährt werden können, werden geschlachtet. Frau Holle zieht nun als Tödin, als Hel, mit ihrem Wagen umher und sammelt die Seelchen von Pflanzen, Tieren und Menschen ein, um sie sicher in die Anderswelt zu führen.2
Erntedank
Es erstaunt nicht, dass gerade in einer Zeit eines solchen Überangebots an Nahrung üppige Feste gefeiert werden, vom Münchner Oktoberfest über die regionalen Metzgete, Weinfeste, und Chilbis bis hin zu den kirchlichen Erntedankfesten. Es ist anzunehmen, dass sie zu den ältesten Riten überhaupt gehören. Denn wenn früher die Ernte nicht gut ausgefallen ist, dann hiess das ganz konkret, dass die Menschen den Winter hindurch Hunger leiden mussten. In dieser Abhängigkeit hatten die Erntedankfeste eine entsprechend gewichtige Bedeutung im jährlichen Brauchtum. Sie alle drücken vor allem eines aus: Dankbarkeit. Dank für die Ernte, Dank für die Gaben des Jahres, Dank für die Nahrung als Geschenk der Natur.3 An vielen Orten ist es bis heute üblich, dass die Bäuerin für alle, die bei der Ernte geholfen haben, ein Erntemahl ausrichtet und damit die Arbeit der Mägde und Knechte würdigt.
Almabtriebe
In den Alpenregionen folgen ab September die feierlichen Alpabzüge oder Almabtriebe. Auch hier steht ein Gedanke der Dankbarkeit dahinter: Man ist froh, haben die Tiere den Sommer auf der Alm gut überstanden. Für den Alpabzug werden insbesondere die Kühe mit Kronen aus Blumen, Tannengrün und Alpkräutern geschmückt, welche die Fülle der Almwiesen wunderschön zum Ausdruck bringen und die Kühe als wahre Königinnen ausweisen.
Die Zeit des grossen Sinkens
Aber nicht nur die Kühe ziehen aus bergigen Höhen wieder hinunter ins Tal. Es ist die Zeit des grossen Sinkens. Der Sonnenbogen sinkt aus der Höhe des Himmels herab. Das Licht wird golden und lässt die Farben von innen heraus leuchten und erstrahlen. Die Bäume ziehen ihre Säfte in die Wurzeln zurück. Dann beginnt sich ihr Laub gelb, orange und rot zu verfärben und sinkt zur Erde hin. Gelb, orange und rot sind auch die Äpfel, die denselben Weg antreten – manche werden abgeerntet, werden in die Keller hinunter getragen, gelagert, andere sinken als Fallobst in den Schoss der Erde zurück. Aus der Leichtigkeit des Sommers sinken wir zurück in unsere Mitte, wenden uns nach innen, kehren ein, kommen an. Und auch Inanna, die grosse sumerische Himmelsgöttin, steigt in die Unterwelt hinab, um das Mysterium von Sterben, Tod und Wiedergeburt am eigenen Leib zu erfahren.
Die Mythe der Inanna
„Obwohl Inanna Herrin des Himmels und der Erde war, entschloss sie sich, auch in die Unterwelt hinabzusteigen. Geschmückt mit ihren göttlichen Insignien brach sie zu der gefährlichen Reise auf. Aber am Eingang der Unterwelt wurde sie erkannt und durch die sieben Tore der Hölle geführt; vor jedem Tor musste sie einen Teil ihrer Kleidung und ihres Schmuckes hergeben. In den Tempel in der Tiefe, wo Ereshkigal, die Göttin der Unterwelt, thront, trat Inanna schliesslich nackt ein. Sobald der Blick der Todesgöttin sie traf, wurde sie ein Leichnam. Als drei Tage vergangen waren, sandte Enki, alarmiert durch Inannas Botin, Lebenswasser und Lebensspeise unter die Erde und rief Inanna ins Leben zurück. Sie durfte wieder auf die Oberwelt steigen unter der Bedingung, einen Ersatz zu schicken. Begleitet von Dämonen der Unterwelt, zog sie in Sumer von Stadt zu Stadt und erlöste die Erde aus ihrer Unfruchtbarkeit. Schliesslich überantwortete sie Dumuzi den Dämonen, weil er eine eitle Haltung eingenommen und keinerlei Trauer über ihren Tod gezeigt hatte. Die Dämonen holten ihn in die Tiefe, und nur auf die Bitten seiner Schwester hin durfte er je für ein halbes Jahr, im Frühling und Sommer, das Licht der Oberwelt wieder erblicken. Während dieser Zeit weilte seine Schwester an seiner Stelle in der Unterwelt, das andere halbe Jahr stieg sie wieder hinauf und Dumuzi hinab.“4
Der Gang in die Tiefe
Durch diesen Gang in die Tiefe eignet sich Inanna die Macht über den Tod an, was sich darin zeigt, dass sie es nun ist, die Dumuzi den Tod bringt. Sie ist zur Herrin über Himmel, Erde und Unterwelt geworden. Bei Dumuzis Tod handelt es sich allerdings nicht um die Strafe für ein unangemessenes Verhalten, sondern um das Sterben der Vegetation, welches im mythologischen Bild entsprechend ausgedrückt wird.5 Er verkörpert die sterbliche Welt gegenüber der Natur – hier Inanna –, die durch die ewige Wandlung von Werden, Vergehen Regeneration und Wiederkehr letztlich als unsterblich gilt. In diesem ursprünglichen Sinn gedacht führt nur ein Leben, das Hand in Hand geht mit dem Tod, zur Unsterblichkeit. Und gerade deshalb ist das Sterben von mythologischen Figuren wie jener des Dumuzi so wichtig, denn sie zeigen, dass sie als Teil der Göttin auch teilhaben an ihren Mysterien – und damit nach jedem Tod fest mit ihrer glücklichen Verjüngung und Wiederkehr rechnen dürfen.
Umwandlung
In Griechenland ist es Kore, welche die unfruchtbare Zeit des Jahres in der Unterwelt verbringt, in Armenien ist es die Tochter der Blumenkönigin6. Aber wir kennen diese universalen Mythenbilder auch aus europäischen Märchen. Wie oft steht da ein Todgeweihter nach der Gabe des Lebenswassers7 einfach wieder auf oder erwachen die Gebeine von Menschen und Tieren zu neuem Leben8. Aus der Mythe von „Frau Holles Apfelgarten“, in welcher der Junker Tod als sehr schöne, aber auch geradezu komische Gestalt gezeichnet ist, erfahren wir, dass auch im Garten Immergrün aus Alten wieder Junge werden.
Was die Natur angeht, so ist der Keim des nächsten Frühlings tatsächlich bereits in diesem Herbst enthalten. Die Erde nimmt alles, was auf sie nieder sinkt, wieder zurück in ihren Schoss, wo ein jedes seine Umwandlung erfährt. Die Kerne von liegen gebliebenem Obst, Samen von Blumen und das Laub, welches die Bäume mehr und mehr abwerfen. Aus dem dichten Laubteppich, bildet sich bald schon eine fruchtbare Humusschicht, die wiederum zur Lebensgrundlage für Pilze, Pflanzen und Tiere wird. Nach einer Zeit der Brache wird im nächsten Frühjahr alles, auf ein Neues wiederkehren. Und nichts, was diesem Kreislauf angehört, geht je verloren.
Literatur
1 Ursula Seghezzi; Macht - Geschichte - Sinn, Triesen 2011
2 Heide Göttner-Abendroth; Frau Holle. Das Feevolk der Dolomiten, Königstein 2005
3 U. Seghezzi; a.a.O.
4 Zusammenfassung der sumerischen Mythe gemäss Heide Göttner-Abendroth; Die Göttin und ihr Heros, Stuttgart 2011
5 H. Göttner-Abendroth; a.a.O.
6 Djamila Jaenike, Blumenmärchen, Mutabor Verlag, 2014
7 Brüder Grimm, Das Wasser des Lebens (KHM 97)
8 Brüder Grimm, Von dem Machandelboom (KHM 47), Der singende Knochen (KHM 28)