Erzählforschung auf dem Boden der Modernen Matriarchatsforschung | Abschlussarbeit Teil 2|8
von dorastochter
Zu meiner Verwendung des Matriarchatsbegriffs
Wenden wir uns nun jenem kulturhistorischen Strang der Erzählforschung zu, der die Ergebnisse der Modernen Matriarchatsforschung mit einbezieht. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Ich verwende den Matriarchatsbegriff ausschliesslich gemäss der Definition von Heide Göttner-Abendroth. Danach handelt es sich bei matriarchalen Gesellschaften nicht um Gesellschaften nach patriarchalem Vorbild einfach mit umgekehrten Vorzeichen, sondern um egalitäre, sprich herrschaftsfreie Gesellschaften, die auf Ausgleich ausgelegt sind und keine Hierarchien kennen. Sie zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie das Gleichgewicht zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern und zwischen Mensch und Natur immer und immer wieder herstellen. Dabei unterscheiden sie sich so grundlegend von unserer patriarchalen Gesellschaftsform, dass wir sie mit unseren gewohnten Denkmustern und vertrauten Denkkategorien nicht so leicht erfassen können. Das Wort "arche" ist hier in seiner Bedeutung von "Anfang" zu verstehen, wie in "Archäologie" oder "Archetyp".
Entdeckung der Struktur im Märchen
1928 erschien unter dem Titel „Morphologie des Märchens“ die von Vladimir Propp (1895 – 1970) entwickelte „Formenanalyse“ der sog. Zaubermärchen1; 1946 folgte das ebenso epochale Werk „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“. Er beschreibt sehr genau die komplexe Struktur, die sich trotz der im Verlaufe von Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden entstandenen Veränderungen, Überformungen und Transformationen in der Tiefe des Märchens erhalten hat. Die Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung, Heide Göttner-Abendroth, geht später weit über das eher abstrakte und darin wenig aussagekräftige Formeln-System von Propp hinaus und verbindet die Sequenzen der Märchenhandlung, die tatsächlich eine erstaunliche Regelmässigkeit in Folge und Ablauf aufweisen, erstmals wieder mit einer konkreten Vorstellung von matriarchaler Kultur, als deren Ausdruck wir das Märchen verstehen dürfen. In ihrer Mythenanalyse „Die Göttin und ihr Heros“ (1980 erstmals erschienen), hat sie die Göttinkulturen von Indien über den Mittelmeerraum bis Europa untersucht, deren mythologische Tiefenstruktur (Göttin-Heros-Struktur) rekonstruiert und damit den Kern einer matriarchalen Mythologie wiederentdeckt.2 Eben diese mythologische Tiefenstruktur finden wir auch im Zaubermärchen. In der Erzählforschung wurden diese Erkenntnisse bisher in erster Linie von Richarda Becker, Kurt Derungs, Gerlinde Glaser, Barbara Gobrecht, Barbara Hutzl-Ronge, Petra Schönbacher und Ursula Seghezzi aufgenommen.
Wichtige Namen der Forschungsgeschichte
Bereits James George Frazer (1854 – 1941) stellt in seinem 1890 erschienen Buch „Der goldene Zweig“ das rituelle Grundmuster von der kosmischen Göttin und dem ihr zugeordneten sterblichen König vor, welches er als „ritual pattern“ (Rituelles Muster) bezeichnet und aufgrund seiner weltweiten Verbreitung als eine magisch-religiöse Grundtatsache der Menschheit sieht.3 Robert von Ranke-Graves (1895 – 1985) antwortet darauf mit dem „ritual mattern“ und zeichnet in seinem Werk das volle Bild der dreifachen Göttin und ihres Heros-Königs nach. Sein 1955 erschienenes Buch „Griechische Mythologie“ ist wegweisend und zeugt von einer grossen Kenntnis der matriarchalen Kulturen im gesamten Mittelmeerraum. Indem Ranke-Graves Mythen mehrschichtig versteht und durch Variantenvergleiche in der Lage ist, die verschiedenen Zeitschichten einer Mythe aufzuzeigen, gelingt es ihm unter Einbeziehung von Archäologie und kulturpolitischen Hintergründen auch die dramatischen Umwälzungen im Mittelmeerraum zur Zeit der Entstehung der ersten patriarchalen Gesellschaftsformen zu erfassen.4 Einen weiteren Klassiker der modernen Mythenforschung finden wir in Edwin Oliver James‘ (1888 – 1972) „The Cult of the Mother Goddess“ (1959 erschienen). Auch James zeigt das archaische Muster einer matriarchalen Mythologie in seiner weiten Verbreitung und die vielfältigen Aspekte der Beziehung zwischen einer Göttin und einem ihr zugeordneten Vegetations-Heros‘ als grundlegende Mythenstruktur.5
Heide Göttner-Abendroth
Im Verlauf der letzten dreissig Jahre hat Göttner-Abendroth Ergebnisse aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, die direkt oder indirekt zum weiten Themenbereich der Matriarchatsforschung gehören, systematisch zusammengetragen und in Abgrenzung zur Bürgerlichen, eine wissenschafts-theoretische Grundlage für die Moderne Matriarchatsforschung geschaffen sowie eine dem Untersuchungsbereich angemessene Methodik entwickelt. Der Gegenstandsbereich dieses neuen Wissenschaftsgebiets umfasst die matriarchalen Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart als Ganzes, inklusive deren bezeichnender Verbindung von Ökonomie, Sozialstruktur, Politik und Kultur (Weltanschauung). Durch weitreichende ethnologische Studien heute noch existierender matriarchaler Gesellschaften konnte Göttner-Abendroth eine genaue strukturelle Definition für den Matriarchatsbegriff erarbeiten, die in der Lage ist, die Tiefenstruktur dieser Gesellschaftsform zu erfassen und die charakteristischen Merkmale für matriarchale Muster auf allen Ebenen der Gesellschaft anzugeben.6 Dadurch sind auch Rückschlüsse auf matriarchale Kulturen in der Vergangenheit möglich. Göttner-Abendroths Theorie wird bezeichnenderweise gerade von indigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus matriarchalen und restmatriarchalen Gesellschaften gut aufgenommen und gerne verwendet.7
Gegensätzliche Weltbilder
Da wir nun in den tieferen Schichten der Zaubermärchen auf matriarchale Mythenstrukturen stossen, die in ein Weltbild eingebettet sind, das uns zunächst völlig fremd ist, halte ich es für ratsam, die Erkenntnisse und die Methodik der Modernen Matriarchatsforschung in der Erzählforschung zu berücksichtigen. Wenn wir die Weltanschauung patriarchaler und die Weltanschauung matriarchaler Gesellschaften (so unterschiedlich diese in Bezug auf ihr jeweiliges Gesellschaftssystem auch sein mögen), nebeneinander stellen, sehen wir, dass wir es mit zwei gegensätzlichen Paradigmen zu tun haben. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Paradigmen können sich aber nicht einfach so miteinander verständigen, weil sie grundlegendste Begriffe nicht in gleichem Sinn verwenden und unter demselben Begriff entsprechend etwas ganz anderes verstehen.8 Ein Paradebeispiel für Missverständnisse im Umkreis der Märchen ist die „Hochzeit“, um nur eines zu nennen. Während damit ursprünglich ein heiliges Ritual gemeint war, das der Verbindung der göttlichen Natur mit der Menschenwelt dient und jährlich wiederholt wird, begreifen wir sie heute als Liebesbeziehung zwischen Frau und Mann auf einer vertraglichen Grundlage. Die Erzählforschung hat mit eben dieser Problematik zu tun. Wir können die Märchen, die auf matriarchale Kulturen zurückgehen nicht ohne Aufarbeitung der kulturellen Unterschiede einfach so aus unseren patriarchalen Denkmustern heraus deuten.
Ideologische Vereinnahmung
Ein weiteres Kernproblem der Erzählforschung liegt in der Transformation von Mythen und Märchen, die wesentlich auf ideologische Vereinnahmung zurückzuführen und mit der Entstehung von Herrschaftsstrukturen wie auch deren Entwicklung bis zur inzwischen weltweit verbreiteten patriarchalen Gesellschaftsform9 untrennbar verbunden ist. Was Ranke-Graves an Veränderungsprozessen und Verdrängungen für die griechische, wie auch für die ägyptische, palästinensische, kretische und keltische, Mythologie nachweisen konnte, hat Gerhard Doerfer (1920 – 2003) im Zuge seiner Untersuchungen für die Transformations- und Deformationsprozesse des tungusischen Schamanentums festgestellt.10 Die Parallelen sind nicht nur auffällig sondern auch bezeichnend und gehen mit den Transformationen, die Propp für das Zaubermärchen herausgearbeitet hat, einher.11 Denn das matriarchale Weltbild, das in den Tiefenstrukturen von Mythen und Märchen manifest ist, ist gleichsam auch die Grundlage eines ursprünglichen Schamanismus, der über grosse Zeiträume hinweg hauptsächlich in Frauenhänden lag.12
Schamanentum und Märchen
Die für das Märchen so bezeichnende Allverbundenheit entspricht nicht nur einem schamanistischen Weltverständnis, sondern kann als direkter Ausdruck schamanistischer Erfahrungen gelesen werden. Auffallend ist nicht nur das Stockwerkbild mit seinen drei Sphären, auf welches ich später noch zu sprechen komme. Wir finden im Märchen auch dieselbe enge Verwandtschaftsbeziehung zwischen Mensch und Natur wie wir sie im Schamanismus antreffen. In völliger Selbstverständlichkeit sprechen da Mensch und Tier, Natur und Gestirn dieselbe Sprache, werden Seinszustände in fliessendem Übergang gewechselt, erfolgt Verwandlung und Rückverwandlung, Verzauberung und Entzauberung. Der Sinn dieses zunächst vielleicht phantastisch anmassenden Treibens erschliesst sich, wenn wir das Märchen wieder in seinen ursprünglichen kulturellen Zusammenhang zurück führen und vor dem Hintergrund eines sehr alten Wiedergeburtsglaubens entschlüsseln.13
Transformationsregeln
Göttner-Abendroth differenziert in „Die Göttin und ihr Heros“ Transformationsregeln für die matriarchalen Göttin-Mythen (Indien, Mittelmeerraum und Europa), für die Zaubermärchen (Europa) und für die matriarchale Mythologie in der Epik des Mittelalters (Europa). Anhand dieser Transformationsregeln wird klar, dass mythologisches Material nicht willkürlich verändert, sondern im Zuge eines langwierigen Prozesses (Patriarchalisierung) immer wieder auch systematisch vereinnahmt, politisch funktionalisiert und wiederholt umgeformt wurde. Eine tiefer greifende Analyse des Zaubermärchens erfordert also ein interdisziplinäres Vorgehen und nebst Mythen- bzw. Variantenvergleich sowie ethnologischen, folkloristischen, archäologischen und historischen Studien, auch ein gutes Mass an Ideologiekritik.
Literatur =>
1 Zaubermärchen sind durch das zyklische Schema Verwandlung-Jenseitsreise-Rückverwandlung gekennzeichnet und lassen sich durch ihre Struktur zu anderen Typen von Märchen leicht abgrenzen.
2 Göttner-Abendroth in Fiebig 2004, S.51 sowie Derungs in Göttner-Abendroth 2011b, S. 276
3 Göttner-Abendroth 1995, S. 85 ff.
4 Göttner-Abendroth 1995, S. 94
5 Vgl. Derungs in James 2003, S. 9 ff.
6 Göttner-Abendroth 2011a, S. 9 ff., vgl. dazu gesamthaft Göttner-Abendroth 1999 und 2000
7 Darunter Bernedette Muthien (KhoeSan, Südafrika), Malika Grasshoff (Kabylen, Nordafrika), Patricia Mukhim (Khasi, Indien), Savithri Shanker de Tourreil (Nayar, Indien), Usria Dhavida (Minangkabau, Indonesien), Letecia Leyson (Babaylan, Philippinen), Lamu Gatusa (Mosuo, Südwest-China), Barbara Alice Mann (Seneca-Irokesen, USA), Marina Meneses (Juchiteken, Mexiko) u.a.
8 Vgl. dazu auch die „Inkommensurabilitätsthese“ von Thomas Kuhn, 1962
9 Patriarchale Kulturen sind Herrschaftskulturen
10 Derungs 1994, S. 28 und S.56 f.
11 Vgl. das Schema der Transformationsanalogie in Derungs 1994, S. 99; vgl. dazu auch Doerfer und Gehrts in Gehrts 2005
12 Derungs 1994, S. 28 sowie S.15 ff.
13 Derungs 1998, S. 177 ff.