1. November: von Halloween und Allerseelen
von dorastochter
Rückzug ins Erdinnere
Ruhig liegen sie da im fahlen Novemberlicht, die abgeernteten Felder, die aufgeräumten Gärten, die kahl gewordenen Landschaften. In den aufgeschichteten Laubhaufen und dem Schnittholz von Bäumen und Büschen mögen jetzt Igel und andere kleine Tiere einen Unterschlupf finden. Und mit ihnen zieht sich noch so manches in die Bereiche des Unsichtbaren zurück: ins Innere der Erde, der Höhlen und der Häuser. Während manche noch die Ahnen ehren und ihre Gräber besuchen, widmen sich andere bereits den Adventsvorbereitungen, und hie und da steigt uns auch schon der Duft der ersten Weihnachtsguezli in die Nase.
Das Formlose nimmt sich Raum
Erstaunt es Sie, dass der November bei den Germanen „Nebelung“ genannt wurde? Gerade in Flusstälern und Seen-Gebieten hängt er jetzt oft tagelang, mit seinen silbergrauen, wabernden Schwaden. Fast, als sollten wir uns auf unsere anderen Sinne besinnen, nimmt er uns immer wieder die klare Sicht, lässt er Formen und Konturen verschwimmen und verschwinden. Und tatsächlich sind wir im Jahreskreis da angekommen, wo das Leben auf eine geistige, eine ideelle Ebene wechselt und die Materie stark zurück genommen erscheint. Laub und Saatgut sind in die Erde eingesunken, Kälte und Dunkelheit wachsen, das Ungreifbare, das Formlose nimmt sich Raum, und wir spüren es deutlich: Der Winter liegt schon in der Luft.1
Die Tore stehen offen
Bereits beim Maibrauchtum haben wir gesehen, dass das Jahr nach alter Vorstellung in ein Winter- und in ein Sommerhalbjahr aufgeteilt wurde. Das Sommerhalbjahr endet mit Sonnenuntergang am 31. Oktober. Das Winterhalbjahr hingegen beginnt erst mit Sonnenaufgang am 1. November. Und so haben wir es auch hier wieder mit einer „offenen“ Nacht zu tun, in welcher die Schleier zwischen den Welten besonders dünn sind. Während wir in der Walpurgis-Nacht „ausfahren“ in den Sommer, kehren wir in der Halloween-Nacht ein in den Winter. Die Tore stehen offen – und die Begegnung zwischen den Ahnen aus der Anderswelt und den Lebenden aus der Diesseitswelt fällt deshalb besonders leicht.
Die Herbstzeitlose
Im Alemannischen kennt man die Herbstzeitlose, die jetzt in zartem Blau erblüht, noch als „Kiltblume“. „Kilt“ bedeutet „Arbeit am Abend, in der Nacht“. So zeigt uns ihr Blühen die neue Jahreszeit an, in welcher nach alter Tradition die Arbeit in das Hausinnere verlegt wird, wo bei oft meditativer Arbeit wie dem Spinnen oder Weben, auch die Aufmerksamkeit eher auf jene Sphären ausgerichtet gewesen sein dürfte, die sich unseren Blicken entziehen. So manche Frau und so manches Mädchen haben die erste Herbstzeitlose, die sie fanden, zwischen den Händen zerrieben, damit diese beim Spinnen nicht wund wurden. Und im Zürcher Oberland war es üblich, sich die Augenlider mit dem Saft der „Liechtbluem“ zu bestreichen, um für die langen, dunklen Winterabende gewappnet zu sein.2
Schützende Ahnen
Doch was hat es nun mit der Halloween-Nacht auf sich – und wo kommen eigentlich all die Gespenster her? Um das Brauchtum dieser Zeit besser verstehen zu können, müssen wir erst einmal ein paar Jahrhunderte bis Jahrtausende zurückstechen, in eine Zeit, in der die Lebenden und die Toten noch ein- und dieselbe Welt bewohnten. Man ging davon aus, dass das Kommen, Werden, Vergehen und Wiederkehren in ewigen Zyklen erfolgt und dass es eigentlich ganz natürlich ist, die Seiten immer wieder zu wechseln. Menschen sterben und werden zu Ahnen. Ahnen kehren durch Wiedergeburt ins Leben zurück und werden wieder zu Kindern. Im Wort „Enkel/Enkelin“ hat die Sprache diese alte Auffassung bewahrt – es bedeutet nichts anderes als „kleine/r Ahn/e“. Im Allgemeinen war man der Ansicht, dass die Ahnen schützend über ihre Familien oder Sippen wachen und den Lebenden segensreich zur Seite stehen.
Von dankbaren Toten
Die Furcht vor den Toten als Wiedergänger, Spukgestalten und Gespenster finden wir erst in Zeiten tiefer, spiritueller Verunsicherung. In der Archäologie tauchen Funde, die solche Ängste belegen, just in jenen Zeiten auf, in denen Menschen von ihrem angestammten Glauben bereits entfremdet waren, zum neuen Glauben – namentlich dem Christentum – aber noch kein tieferes Vertrauen aufbauen konnten.3 Bis dahin waren die Toten Freund, nicht Feind der Lebenden, und als Ahnen in der Regel wertgeschätzt und geachtet. In Märchenmotiven wie jenem des dankbaren Toten, kommt dies noch zum Ausdruck.
Halloween
Gerade zu Allerseelen war es Brauch, den Tisch reich für die Ahnen zu decken, ihrer zu gedenken, mit ihnen zusammen zu feiern, die gemeinsamen Bande zu bestärken und ihren Segen entgegenzunehmen. Den Toten zu Ehren wurden Gemüselichter aufgestellt und insbesondere in die „Räben“ (Rüben) schnitzte man die Gesichter der Ahnen als Zeichen ihrer (nicht körperlichen) Präsenz. Mit der Zeit aber zogen immer häufiger nicht nur die Ahnenseelen segnend umher, sondern auch arme Menschen, die von Hause zu Haus – um der lieben Seelen willen – um Almosen baten. Dieser alte Heischerbrauch wanderte schliesslich im Gepäck der Auswanderer, zusammen mit den verschiedenen Formen des Totengedenkens, mit nach Amerika, drehte sich dort ein paar Mal um sich selbst und kehrte in kommerzialisierter Form, sozusagen als „Re-Import“ eines gesamteuropäischen Brauchs, nach Europa zurück.4
Süsses oder Saures
Jetzt heisst es „Süsses oder Saures“, wenn die Kinder in den Fusstapfen der armen Heischer, nunmehr in Skelettgewand und feschem Vampir-Look, unter Androhung von Schabernack, nach Schleckereien verlangen. Und ehe wir's uns versehen, sind aus den einst gütigen Ahnen die Spukgestalten geworden, die uns nun aus Kürbisfratzen entgegen grinsen und sich auf Halloweenparties an wonniglichem Gruseln gütlich tun.
Räbeliechtli-Umzüge
Aber zum Glück ist Volksbrauchtum stur. Selbst wenn es grosse Umwandlungen erfährt, wird es noch weiter tradiert. Dies können wir auch bei den „Räbeliechtli“-Umzügen beobachten, die mittlerweile unter der Obhut des heiligen St. Martin zum 11. November begangen werden. Es handelt sich hier um eine Überlagerung, denn ursprünglich finden wir den Mantel des heiligen St. Martin bei Frau Holle, die ihre Heimchen, die Kinderseelen, umherführt, damit sie nach einer neuen Mutter Ausschau halten können. Frauen, die sich ein Kind wünschen, legen jetzt Leb-Kuchen auf die Fenstersimse, um ein Seelchen anzulocken. Und wer wohl wäre besser geeignet, diese Ahnenseelen rituell zu verkörpern, als die Kinder, die ja gerade als wiedergeborene Ahnen gelten? Es rührt mich jedes Jahr wieder zutiefst, wenn ich dem kleinen Volk begegne, das mit seinen Räbeliechtli singend durch die dunklen Strassen zieht.
Ein Mantel aus Nebel
Die waadtländer Sage der „Königin Bertha“ bringt sehr schön zum Ausdruck, wie der Nebelschleier im Myhtenbild zu Gewand und Mantel einer gütigen Mutter wird, die sich um ihre Kinder auf der Erde sorgt. Es ist ein Bild, das wir auch von den Schutzmantel-Madonnen kennen. Bei der Sage hier handelt es sich um eine Vermischung der Urmutter-Gestalt Bertha/Percht, die mythologisch auch der Holle nahe steht, mit der Burgunderkönigin Bertha, die 922 bis 937 regiert haben soll.5
„Beim Turme von Gourze, nicht weit von Cully im fruchtbaren Waadtland, sollen schon viele Menschen die Königin Bertha gesehen haben, die noch immer ihr altes Land liebt, schützt und segnet. Jeden Winter, wenn feuchte Nebel sich an den Abhängen der Berge lagern, erscheint sie in weissem leuchtendem Gewande über jenen Gemäuern: Aus voller Futterschwinge streut sie die Saat ins Land, derart übers Jahr eine reiche Ernte versprechend.“6
Sanft in den Winter gleiten
Vielleicht schnitzen Sie in diesem Jahr ein Kürbis- oder Rübenlicht für Ihre Ahnen oder jene Verstorbenen, die Sie gerne noch einmal besonders würdigen möchten. Und falls Sie diesen Brauch gerne mit anderen teilen möchten, so sind Sie herzlich eingeladen, am 1. November am Totengedenken der FährFrauen teilzunehmen. Es ist jedes Jahr wieder wunderschön zu sehen, wie all die Ahnen-Lichter nach einem kleinen Gedenken langsam in den Fluss hinaus gleiten. Zeit und Ort erfahren Sie auf der FährFrauen-Seite unter Kultur.7
Literatur
1 U. Seghezzi, Macht Geschichte Sinn, Triesen 2012, S. 24
2 Seghezzi, a.a.O., S. 363 f.
3 Vgl. dazu Mark Horton, Archäologe, im arte-Dokumentarfilm „Vampirskelette – Untote im Mittelalter“
4 Seghezzi, a.a.O. S. 368 ff.
5 Seghezzi, a.a.O. S. 199 f.
6 S. Golowin, Hausbuch der Schweizer Sagen, Wabern 1981, S. 50
7 In der Regel um 18:30 Uhr in Eglisau, Wildegg und Wohlen/Bern. Siehe auch auf der Seite der FährFrauen.