Sommer: Von Venus und Grünem Mann
von dorastochter
Wer kennt sie nicht, die Leichtigkeit des Sommers?
Wann, wenn nicht im Sommer, können wir einfach so in den Tag hinein leben, die Seele baumeln und uns treiben lassen, während es überall um uns her summt und brummt und kreucht und fleucht? Wo es dereinst das landwirtschaftliche Jahr war, welches die Zeit des Reifens zwischen Aussaat und Ernte als eine Zeit der Ruhe auswies, mögen es heutzutage die grossen Ferien sein, die uns ein Gefühl sommerlicher Sorglosigkeit bescheren.
Rot – die Farbe des Lebens
Wenn wir die Natur betrachten, so befindet sie sich nun zur astronomischen Sommer-Sonnwende, dem eigentlichen Sommerbeginn, in ihrer höchsten Entfaltung und der Sonnenbogen erfährt seine grösste Ausdehnung. Senkrecht dringen die Sonnenstrahlen vom Himmel herab in den weit geöffneten Erdschoss. Zu keiner anderen Jahreszeit sind die farblichen Kontraste so stark wie jetzt, da die grüne Flut überall rote Beeren, rote Rosen, roten Klatschmohn, rote Ampfer-Schleier, rote Kirschen und vieles mehr hervor bringt; und zu keiner anderen Jahreszeit treffen wir Blätter, Blüten und Früchte gleichzeitig an. Die als Natur selbst verstandene Göttin zeigt sich in ihrer unendlichen Fülle und feiert mitten darin die Liebe. Rot ist denn auch die Farbe des Lebens, die Farbe der Verbindung, welche in dieser Zeit besonders schön zum Ausdruck kommt. Es ist die Zeit der Heiligen Hochzeit, in welcher sich Himmel und Erde vereinen. Und nach alter Vorstellung ist es tatsächlich die Eros-Kraft, die Liebe, welche alles mit allem verbindet und die Welt im Innersten zusammen hält. Natürlich hat die Göttin einen Partner: Es ist der „Wilde Mann der Wälder“, der „Grüne Mann“, dessen Gesicht uns durch blattartige Masken entgegenblickt.1 In den legendenumwobenen Rosen- und Tiergärten, im Sagenmotiv vom Venusberg und an manch anderem paradiesischen Ort, feiern sie gemeinsam die Liebe.
Die Zwerge feiern Hochzeit
Es ist nun aber nicht nur der längste Tag im Jahr sondern auch die kürzeste Nacht. Von jetzt an wird die Dunkelheit wieder wachsen. Und so wie die Geburt des Lichts rituell begleitet wird, wird auch die Geburt der Dunkelheit gefeiert. Die Kirche hat diesen zwei Ereignissen ihre eigenen Begleiter zur Seite gestellt: Die Geburt von Jesus zu Mittwinter und die Geburt von Johannes dem Täufer zu Mittsommer. Als Nahtstelle zwischen den Welten ist diese kürzeste Nacht des Jahres durch und durch magisch. Es heisst, der Elfenkönig erscheint mit seinem Gefolge, dem "kleinen Volk". Jene, die hellsichtig genug sind, sollen die Zwerge unter dem Holunder Hochzeit feiern sehen und wer den Glühwürmchen und Johanniskäfern folgt, wird auf Feen und Elfen treffen. Wer sich mit diesen Naturwesen gut stellen will, bringt ihnen kleine Gaben dar und stellt ihnen kleine Schüsselchen voller Rahm, etwas Milch oder Brot hin.2 Ein Thema, welches nicht zuletzt auch im Schweizer Märchen „Das hilfreiche Bergmännlein“3 wiederkehrt.
Feuer und Wasser – reifende Kornfelder
Das treibende Motiv der Mittsommerbräuche ist schliesslich die Fruchtbarmachung von Land, Mensch und Tier. Die vielen Johannisfeuer sind Ausdruck der Feuerkraft der Sonne, die jetzt in ihrem Zenit steht. Nicht ganz zufällig wird der rituelle Sprung über das Feuer hinweg besonders mit Liebe und Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Es heisst, jenen Paaren die übers Feuer springen, ohne dass sich dabei ihre Hände lösen, sei ein langes und glückliches Liebesleben beschert. Und es heisst: „je höher der Sprung, umso höher soll diesen Sommer das Getreide wachsen!“4 Auch dem Wasser kommt besondere Verehrung zu. Ohne ausreichende Bewässerung kann die Ernte nicht gedeihen. In diesem Zusammenhang ist das mittsommerliche Schmücken von Quellen und Brunnen zu sehen, die vielerorts den Schoss der Göttin verkörpern. Dies kommt auch im weit verbreiteten mythologischen Bild zum Ausdruck, in welchem sich die Liebesgöttinnen, am Wasser sitzend, sehnsuchtsvoll die goldenen Haare kämmen. Dieses Motiv taucht beispielsweise in dem Märchen "Die Nixe am Teich"5 auf. Es ist die erotische Aufforderung an ihren Himmels-Bräutigam, mit welcher sie den Akt der Heiligen Hochzeit einleitet. Auf naturmythischer Ebene symbolisieren die Haare kämmenden Hohen Frauen das Wogen der reifenden Getreidefelder, durch die der Wind fährt.
Die Heilige Verena und der Tannhuser in der Schweiz
Wir kennen dieses Bild von der Lore-Ley, von vielen namenlosen Jungfrauen, die in Höhlen, auf Bergen und in Gewässern leben, von Frau Holle und in der Schweiz von der Heiligen Verena, welche als Attribute den Kamm trägt und den Krug, der ihren Schoss symbolisiert. Wir kennen sie sowohl als Kirchenheilige wie auch als im Volk verehrte „Frau Vrene“, die mit Liebe, Erotik und Kindersegen in Verbindung gebracht wird. In der ganzen Schweiz gibt es reichlich Hinweise auf sie, so etwa in den Liedern vom „Tannhuser“6 und dem „Guggisberglied“ oder in Sagen wie jenen vom „Rosengarten am Türlersee“ und dem „Vrenelisgärtli“ im Glarnerland, um nur einige zu nennen7. Das Volkslied vom Tannhuser hat sich in unzähligen Varianten in ganz Europa erhalten und wurde in der Schweiz sowohl in Sargans und Hergiswil als auch im Aargau bis ins 19. Jahrhundert hinein mündlich überliefert.
Der Wilde Mann
Wir erkennen im Tannhuser den Wilden Mann, den Grünen Mann, der mit seiner Geliebten Hochzeit hält. Obwohl ihm vom Papst für die (nach kirchlichem Verständnis) sündhafte Handlung nicht vergeben wird, grünt sein (phallischer) Stab in dem Moment, in welchem er zu seiner Geliebten zurückkehrt. Seine Macht ist der Gesang und zwar der „Minne“ – er dient damit der Liebe und stellt seine Kräfte in ihren Dienst. Tatsächlich wurde Tannhuser noch im Mittelalter als „Minnesänger“ verehrt. Kurt Derungs übersetzt den Namen Tannhäuser mit „Bewohner von Tann“ – „Tann oder Dann“ verweist auf die alteuropäische Göttin Dana/Ana, welche letztlich hinter der Venus oder Frau Vrene des Tannhusers steht. Der Name „Dana“ wurde in der Frühzeit Europas oft mit Berg und Hügel gleich gesetzt, so dass Tannhuser als ein Bewohner der Venus-Berge, im Sinne einer paradiesischen Höhle, ausgewiesen wird. Im Venusberg erlebt er jenen Zeitsprung, den wir in den Märchen immer wieder finden, wenn ein Sterblicher unter die Bewohnerinnen und Bewohner einer jenseitigen Welt gerät. Plötzlich ist Tannhuser ein alter Mann, der bis zum „jüngsten Tag“ schlafen muss, solange eben, bis sein Bart siebenmal um den Tisch herum gewachsen ist, an welchem er sitzt. Dann aber wird er wohl von Neuem der Minne dienen – und es mag ein hoffnungsvolles Sinnbild sein auf eine Zeit, in der es sich wieder frei tanzen, singen und den Sommer feiern lässt.
Literatur
1 Andrea Dechant, Das feurige Fest des Sommerbeginns, artedea ebook (www.artedea.net), Wien 2013
2 A. Dechant, a.a.O.
3 siehe auch unter www.schweizermaerchenschatz.ch
4 Ursula Seghezzi; Macht - Geschichte - Sinn, Triesen 2011
5 Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm,
Ausgabe letzter Hand 1857
6 „Tannhuser“ ist eine der geläufigen mundartlichen Bezeichnung für „Tannhäuser“. Auf diesen alten Mythenstoff bezieht sich später auch Richard Wagner in seiner gleichnamigen Oper.
7 Kurt Derungs, Der Kult der heiligen Verena, Aarau 2007