Frühling: Vom Ei des Lebens und Wilder Jagd
von dorastochter
Was war zuerst da: Das Ei oder das Huhn?
Wenn wir uns an den Mythen orientieren, so ist es eindeutig das Ei. Aus ihm, so heisst es vielerorts, geht die gesamte Schöpfung hervor, Elemente, Länder, Tiere und Menschen gleichermassen, schliesslich eine ganze Welt – und ganz gewiss wird dabei auch das Huhn nicht fehlen. In der griechischen Mythe der Eurynome finden wir ein anschauliches Beispiel, in welchem auch die Taube eine Rolle spielt.
Die Mythe von Eurynome
"Eurynome ist die allerälteste der griechischen Göttinnen. Sie erhob sich nackt aus dem uranfänglichen Chaos und begann sofort zu tanzen. Mit ihrem Tanz schied sie das Licht von der Dunkelheit und das Meer vom Himmel. Sie war völlig dem Rausch der wirbelnden Bewegungen hingegeben. Aus diesen Wirbeln hinter sich entstand ein Wind, dessen Lust sie weckte. Sie drehte sich zu ihm um und packte den Wind mit ihren Händen. Die Göttin rollte ihn zu einer Schlange, als wäre er aus Lehm. Diese Windschlange nannte sie Ophion. Eurynome schlief mit Ophion und verwandelte sich anschließend in eine Taube. In dieser Gestalt legte sie das universale Ei, aus dem die gesamte Schöpfung schlüpfte. ‚Die großzügig Regierende’ richtete sich hoch über der neuen Erde auf dem Berg Olympos ein und blickte sehr zufrieden auf ihre Schöpfung herab. Ophion jedoch brüstete sich damit, dass alles Materielle auf ihn zurück gehe. Für diese unverschämte Anmaßung schlug ihm Eurynome unverzüglich die Zähne aus und warf ihn in einen Kerker in der Unterwelt".1
Zaubervögel
Dass Tauben wahre Zaubervögel sind, sollte uns nicht erstaunen – immerhin haben wir es gerade mit den Vögeln der Göttin zu tun. Hier ist es Eurynome, die Göttin selbst, die sich in eine Taube verwandelt, aber wir kennen die Tauben auch als Begleitvögel vieler anderer Göttinnen, etwa der Aphrodite oder Astarte; und als Zaubervögel kennen wir sie auch aus dem Märchen "Aschenputtel", wo sie der jungen Frau als Boten zwischen Diesseits und Jenseits tatkräftig zur Seite stehen und wahrsprechen, um der richtigen Braut zu ihrem Recht zu verhelfen. Im Osterbrauchtum treffen wir die Taube noch als Gebildbrot an, vor allem als italienische Colomba. Dass die Tauben hier erhalten geblieben sind, dürfte vor allem mit dem Aspekt der Fruchtbarkeit zusammen hängen, der ja auch in der vorliegenden Mythe zum Ausdruck kommt und dem Volksmund, der von "Turteltäubchen" und "Taubenschlag" spricht, ebenfalls bekannt ist.
Strahlende Göttinnen der Morgenröte
Aber wie ist das nun mit Eurynome und mit dem Ei? Das kirchliche Osterfest wird am Sonntag nach dem ersten Vollmond nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche gefeiert und hat unzählige Vorstellungen und Bräuche in sich aufgenommen, die ursprünglich in der Tradition der wesentlich älteren und neben dem Christentum lebendig gebliebenen Göttin-Kultur stehen. Sogar der Name wurde von der Kirche übernommen: Ostern. Von Ostara. Die Worte "ostarun" (Althochdeutsch) und "Osten" gehen auf denselben Wortstamm zurück und bezeichnen letztlich schlicht die "Morgenröte".2 "Strahlende Göttinnen der Morgenröte bzw. der Morgendämmerung tragen Namen, die jenen der Göttin Ostara oder Eostra ähneln: die litauische Göttin Ausrine, die lettische Auseklis, die römische Aurora, die griechische Eos, die hinduistische Ushas. Diese 'Ahninnen' der Ostara steigen also verheissungsvoll jeden Morgen im Osten auf, um den neuen Tag zu bringen."3
Auferstehung der Natur
Zur Frühlings-Tagundnachtgleiche feiern wir die Auferstehung der Natur, die Wiederkehr des Lebens und die wachsende Kraft der Sonne. Nach langen, dunklen Wintermonaten ist die Frühlings-Tagundnachtgleiche ein wunderbarer und meist lang ersehnter Wendepunkt. Endlich sind die Tage wieder länger als die Nächte, es wird wärmer dadurch und die Vegetation beginnt in Reaktion auf die stärkere Sonneneinwirkung auszutreiben. Es ist eine dramatische Zeit, in welcher sich Kälte und Hitze oft in kurzen Intervallen wechseln. Das junge Leben braucht eine unglaubliche Stärke, um sich Bahn zu brechen, gleichzeitig ist es noch ganz zart und braucht viel Schutz. Es ist eine Zeit der Wandlung, in der vieles noch einmal eine andere Gestalt annimmt – und auch von den jungen Wesen überleben längst nicht alle. Einige stürmen hinaus ins Jahr, andere kehren in die Anderswelt zurück, und auch die Frühlingsstürme nehmen manches noch einmal auf den Prüfstand. Der Frühling ist die Jahreszeit der Kraftentfaltung und Formwerdung – und genau das spiegelt sich in den Mythen und im Brauchtum wieder.4
Es soll Frühling werden!
Die Göttinnen verkörpern die Kräfte der Erde und sind somit mythologische Ebenbilder der Naturkräfte. Die Frühlingsgöttinnen sind wild und unabhängig. Eurynome paart sich mit dem Wind. Artemis Diana tritt als Herrin der Tiere hervor. Flora lässt die Wiesen blühen. Frau Holle stürmt mit ihren heiligen Wesen in die Welt. Sie sind Schützerinnen der jungen Tiere aber auch wilde Jägerinnen, welche die Sonne einfangen und sie auf die Erde bringen – und mit ihr das neue Leben. Noch heute feiern wir rituell die Jagd auf das neue Leben, wenn wir uns auf Ostereiersuche begeben. Es ist eine rituelle Form des Lockens und Werbens, es ist eine Einladung an das neue Leben, nun zu erscheinen. Es soll Frühling werden!
Die Jagd nach der Sonne
Während der Wintermonate legen die Hühner keine Eier – erst wenn die Tage wieder lang genug sind und das Licht zwölf und mehr Stunden anhält, gibt es wieder Eier zu essen. In ihrer magischen Eigenschaft als Weltenei und Ei des neuen Lebens drängen sie sich für solche Riten förmlich auf. In unserer modernen Welt hat die Rückkehr des Lichts wohl nicht mehr die gleiche Bedeutung wie zu Zeiten als die dunkle Jahreshälfte noch wirklich dunkel war – aber vielleicht denken Sie dennoch daran, wenn sie erfolgreich von der Jagd zurückkehren, was für eine Magie in ihrem bunt verzierten Osterei steckt. Und wenn Sie ganz genau hinschauen, dann sehen Sie sicher, dass das gefundene Ei tatsächlich eine kleine Sonne in sich birgt.
Literatur
1 Von Ranke-Graves; Griechische Mythologie, Quellen und Deutung, Hamburg 1989
2 Duden, Herkunftswörterbuch, 1989
3 Andrea Dechant; Das Fest der Frühjahrs-Tag-und-Nachtgleiche, artedea ebooks (www.artedea.net), Wien 2013
4 Ursula Seghezzi; Macht - Geschichte - Sinn, Triesen 2011, S. 15 ff.