Von Matriarchat und Patriarchat | Abschlussarbeit Teil 3|8
von dorastochter
Ein weiterer Blick in die Geschichte
Erlauben wir uns noch einmal einen Blick in die Geschichte. Herrschaftskulturen sind in der rund 100‘000 jährigen Kulturgeschichte des Menschen ein verhältnismässig junges Phänomen. Über die Altsteinzeit können wir in Ermangelung ausreichenden Belegmaterials keine Aussagen bezüglich der Sozialstruktur der damals lebenden Menschengruppen machen. Anders sieht es für die Jungsteinzeit aus. Älteste Spuren einer Kultur von Pflanzerinnen und Pflanzern liegen in Kleinasien und reichen teilweise bis 15‘000 vor u.Z. zurück. Durch den Ackerbau und die Domestizierung von Tieren wie etwa der Kuh, der Ziege oder des Schafs, ergab sich eine höhere Sesshaftigkeit, und es konnten grössere Menschengruppen ernährt werden. Das sind die Voraussetzungen, die zur Bildung des matriarchalen Verwandtschaftssystems und zur matriarchalen Kultur insgesamt führten, deren friedliche Existenz sich über mindestens 8‘000 Jahre hinweg erhalten und dabei verschiedene matriarchale Epochen durchlaufen hat.1
Mutterlinie
Es ist naheliegend, dass sich eine Menschengruppe zunächst entlang der Mutterlinie strukturiert. Die Abstammung von der Mutter ist im Gegensatz zur Abstammung vom Vater offensichtlich. Matriarchale Gesellschaften folgen dieser natürlichen mütterlichen Ordnung sowohl im Aufbau ihres Verwandtschaftssystems als auch im integrativen Umgang mit grundlegenden, natürlichen Bedürfnissen der Menschen. Das Prinzip der Mütterlichkeit lässt sich dabei nicht allein auf die biologische Mutterschaft reduzieren. Von ihr abgeleitet sind mütterliche Werte wie Lieben, Nähren, Pflegen, Versorgen, Heilen, Schützen usw., die für das gesamte Gesellschaftssystem prägend und tragend sind und sowohl von Frauen wie auch von Männern ausgeübt werden.
Die matriarchale Sippe
Matriarchale Gesellschaften bestehen aus einem Gefüge von Sippen, die sich entlang dieser Matrilinie (Mutterlinie) bilden und beruhen entsprechend auf Verwandtschaft. Konkret heisst das, es leben in einer matriarchalen Sippe mindestens drei Generationen zusammen, die Sippen-Mutter mit ihren Schwestern und Brüdern, ihren Töchtern und Söhnen sowie mit ihren Enkelinnen und Enkeln. Sippenname, soziale Titel und Würden werden in der Mutterlinie an die Kinder beiderlei Geschlechts weitervererbt. Die Männer der Sippe sind mit den Frauen in direkter Linie verwandt, sie sind Brüder der Mutter, Söhne und Enkel. Die bürgerliche Kleinfamilie mit Ehefrau, Ehemann und Kindern, wie wir sie kennen, ist in matriarchalen Kulturen nicht existent. Kinder sind in erster Linie Kinder der Sippe – hier finden sie nebst ihrer Mutter und weiteren weiblichen auch ihre männlichen Bezugspersonen; nach unserem Sprachverständnis Onkel und Grossonkel mütterlicherseits. Die Männer betrachten ganz selbstverständlich die Kinder, die denselben Sippennamen tragen als ihnen zugehörig, also die Kinder ihrer Schwestern. Die biologische Vaterschaft spielt keine weitere Rolle (auch dann nicht, wenn sie bekannt ist), da sie für die Gesellschaftsstruktur nicht massgebend ist.
Matrilokalität
Frauen wie Männer bleiben - auch nach einer Heirat - Mitglied der eigenen Muttersippe (Matri-Clan), wo sie politisch und ökonomisch ihre Rechte und Pflichten haben (Matrilokalität). Im Haus ihrer Geliebten oder Gattin sind die Männer Gast und bleiben meist nur über Nacht (Besuchsehe). Häufig bestehen zwischen benachbarten Sippen enge Bande, die über ausgeklügelte Heiratsregeln aufrecht erhalten werden – dabei geht es in erster Linie darum, die Clans, von denen ein jeder auch ein unabhängiges Wirtschaftssystem sowie eine politische Einheit bildet (Konsensfindung), wiederum untereinander zu vernetzen, damit eine nicht-hierarchisch organisierte Gesellschaft entstehen kann, in welcher alle Mitglieder eines Dorfs oder einer Stadt mehr oder weniger miteinander verwandt sind. Über die Verwandtschaftsbeziehungen leiten sich denn auch die Rechte und Pflichten der einzelnen Mitglieder ab. Die Liebesbeziehungen beider Geschlechter spielen dabei frei, denn sie sind für die Gesellschaft nicht strukturbildend und können entsprechend gemäss den eigenen Bedürfnissen geschlossen und auch wieder gelöst werden.2
Stabilität matriarchaler Kulturen
Wie bereits angedeutet ist es Teil der Definition, dass eine matriarchale Gesellschaft permanent um die Balance zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Mensch und Natur besorgt ist. Dafür gibt es soziale Spielregeln und Übertretungen werden sofort rückgängig gemacht.3 Gerade die markante Verstrebung von ökonomischer Grundlage, Sozialstruktur entlang der Mutterlinie, ritueller Praxis, spiritueller Weltanschauung und „basis-demoratischer“ Politik per Konsens dürfte für die bemerkenswerte Stabilität der matriarchalen Gesellschaftsform über einen vergleichsweise grossen Zeitraum4 verantwortlich sein. Ein solch ausgeklügeltes System kippt nicht so leicht um. Vieles deutet darauf hin, dass erst das Zusammenwirken mehrerer Faktoren jenen Druck erzeugte, der schliesslich zur Bildung erster Herrschaftsstrukturen und zur Zerstörung des matriarchalen Sippengefüges führte.
Patriarchatsentstehung
Wenn sich mehrere schwerwiedgende Faktoren verdichten und über mehrere Jahrtausende wirken, kann sich allerdings ein Druck aufbauen, dem auch eine in sich stabile Kultur nicht mehr gewachsen ist. Eine einschneidende Klimaveränderung, ca. 6000 vor u.Z., führte zur Verwüstung riesiger Landstriche und löste so im westasiatisch-europäischen Raum katastrophische Wanderungen ganzer Völkerscharen aus, die sich über einen Zeitraum von rund 2000 Jahren hinzogen. Welle um Welle stiess von Ost nach West in Gebiete, insbesondere des Vorderen Orient und des Mittelmeerraums, vor, deren Siedlungsräume bereits verknappt waren. In ihrer These zur Patriarchatsentstehung legt Göttner-Abendroth ein plausiles Szenario vor und nimmt an, dass sich unter eben dieser anhaltenden Extremsituation erste charismatische Führer profiliert und mit einer kleinen Anhängerschaft für sich die Möglichkeiten der Waffengewalt als Erzwingungsstab entdeckt haben könnten.5 Aus solchen Keimen konnte sich in einem Prozess von weiteren rund 2000 Jahren ein Herrschaftssystem herausbilden, das sich schliesslich in dem, was wir als patriarchale Kultur kennen, ausprägte.
Herausbildung von Herrschaft
Machen wir uns – zumindest ansatzweise – bewusst, wie komplex diese Zusammenhänge sind. Die alleinige Entwicklung einer Herrschaftstechnologie reicht noch nicht aus, um eine matriarchale Bevölkerung über grosse Zeiträume hinweg unterwerfen und kontrollieren zu können. Dazu bedarf es der Vereinnahmung, Nachahmung, Infiltration und schliesslich Pervertierung der angestammten Kultur, der Spaltung des Volks durch das Schaffen von Privilegien für gewisse Minderheiten (divide et impera), der Zerstörung des Sippenwesens, insbesondere der Herauslösung der Frau aus dem matriarchalen Clan-Wesen und deren Zwangsmonogamie zur Bestimmung einer männlichen Genealogie (Abstammung in der Vaterlinie); vor allem aber setzen solche gravierenden, dem natürlichen Bedürfnis der wohl allermeisten Menschen zuwiderlaufenden, tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen eine Herrschaftsideologie voraus, die den Machtanspruch einer kleinen Minderheit legitimiert und deren ausbeuterisches Vorgehen ebenso verschleiert wie die plagiative Aneignung sämtlicher kultureller Leistungen und Errungenschaften jener Bevölkerung, die erobert und unterdrückt wird.6 Mythen, die die Lebensrealität matriarchaler Menschen abbilden, werden nun verwendet um neue Lebensrealitäten zu schaffen und diese in breiten Bevölkerungsschichten von oben nach unten durchzusetzen. Klassisch ist zum Beispiel die Mythologisierung der biologischen Vaterschaft oder die Verheiratung eines männlichen Gottes seitens der Eroberer mit der einheimischen Göttin der Eroberten.
Zweischichten-Staat
Da Frauen in erster Linie die Trägerinnen der matriarchalen Kultur sind und waren, hat sich die Herrschaftsbildung und somit die patriarchale Gesellschaftsform von Anfang an nicht nur gegen die matriarchale Bevölkerung allgemein sondern explizit gegen Frauen gerichtet. Waffentechnisch und in der Kriegsführung sind matriarchale Gesellschaften den patriarchalen unterlegen – sie sind auf Frieden und Nachhaltigkeit ausgerichtet, nicht auf kriegerische Eroberung und Zerstörung. Darin ist denn auch der Grund zu sehen, weshalb sich die neue Herrschaftskultur weltweit durchzusetzen vermochte. In frühpatriarchaler Zeit unterwirft fast immer eine verhältnismässig kleine Gruppe von Eroberern mit militärischer Schlagkraft, eine wesentlich grössere Bevölkerungsgruppe und bildet hernach eine ständische Klassengesellschaft mit einer elitären Herrenschicht. Das heisst, wir haben es sehr bald mit einer Art „Zweischichten-Staat“ zu tun. Während wir einerseits eine dünne, bestimmende Oberschicht antreffen, die aus fremden Eroberern besteht und zwecks Legitimation eine Herrscherideologie vertritt, die zunehmend zur einzig wahren Weltanschauung stilisiert wird, treffen wir in der alteingesessenen und jetzt unterworfenen Bevölkerung auf die althergebrachte Weltanschauung, die sich noch über grosse Zeiträume hinweg, wenn auch zunehmend verändert, transformiert und deformiert erhält, bis sie schliesslich fast nur noch in Substraten fassbar ist. Gleichzeitig sehen wir in den frühen Anfängen der Patriarchalisierung, dass sich in Europa der Kriegeradel besonders mit Frauen aus der angestammten Bevölkerung verbindet, die in einem sakralen Sinn als Landeskönigin gelten und über die sie ihre politische Legitimation ableiten.
Patriarchalisierung in Mittel-und Westeuropa
In den mittel- und westeuropäischen Gebieten setzt der Patriarchalisierungsprozess mit den Kelten (ab ca. 800 vor u.Z.) ein.7 Darauf folgen die Germanisierung, dann zur Zeit des römischen Imperiums die Romanisierung, die nicht zu letzt bis in unsere heute gebräuchliche Rechtsform hinein ihre Spuren hinterlassen hat, und ab dem 4./5. Jahrhundert die Christianisierung. Noch im europäischen Mittelalter besteht ein starker Gegensatz zwischen der Kunst und Weltanschauung in höfischen und kirchlichen Kreisen einerseits und jener der allgemeinen Bevölkerung andererseits, die nach wie vor in der Tradition einer alten Göttinkultur steht, was Brauchtum, Volkskunst, Mythen und Märchen zeigen.8
"Hexen"-Verfolgung
Gerade im Spätmittelalter tritt der Göttinglaube der ursprünglich matriarchalen und nur oberflächlich christianisierten Bevölkerung wieder verstärkt auf, worauf die kirchliche Inquisition Schamaninnen, Heilerinnen und Hebammen zu Beginn der frühen Neuzeit als sogenannte Hexen kriminalisiert und ihren unheilvollen Feldzug gegen diese beginnt. Nach neueren Erkenntnissen wurden Millionen umgebracht, rund 90% davon Frauen (die Schriften, die die Grundlage dieser über Jahrhunderte andauernden Verfolgung bilden, sprechen ausschliesslich von Frauen).9 Es handelt sich hier um nichts Geringeres als die nahezu vollständige Vernichtung der Reste einer alten europäischen Göttinkultur mit ihrem ursprünglichen matriarchalen Weltbild. Anfänglich mag die Verfolgung durch die kirchliche Inquisition noch zielgerichtet gewesen sein, schon bald aber schlug sie in pure Willkür um und griff als sogenannter „Hexenwahn“ in erschreckendem Ausmass um sich.10 Dies dürfte auch der Grund sein, warum in Europa als einzigem Kontinent keine matriarchale Kultur bis in die heutige Zeit überleben konnte.
Unterschied zwischen Mythen und Märchen
Es kann gut sein, dass der Unterschied zwischen Mythen und Märchen, die zwar beide dieselben mythologischen Strukturen transportieren, wobei das Märchen aber nur noch typisierte Figuren ohne konkrete Namen vorstellt, auf solche Zeiten der Verfolgung zurück geht. Die Gefahr, die Göttin und die matriarchalen mythologischen Figuren offen zu benennen war immerhin sehr hoch. Mythen bzw. Märchen sind aber eben nicht einfach nette Geschichten zur allgemeinen Unterhaltung, sondern Ausdruck einer Kultur, die ihr kultisch-magisches Wissen, rituelle Formen und Anleitungen zur rituellen Praxis wie auch historische Ereignisse mündlich überliefert - und somit ist ihre Weitergabe wichtig genug, um auch Risiken in Kauf zu nehmen. Offensichtlich waren die Menschen vor allem der unteren sozialen Schichten nicht bereit, sich von ihrem Weltbild abzuwenden.
Rationalismus, Neuzeit und Aufklärung
Wer die Natur beobachtet, erkennt, dass das Leben bestimmten Zyklen folgt. In ewigen Kreisläufen von Leben, Sterben und Wandeln kommen und gehen Tage, Monate und Jahreszeiten. Frauen gebären Kinder. Sie brauchen keine Rippe zur Hilfe zu nehmen und keine Stirn. Mütter sind Herkunft des Lebens. Wohl auch deshalb haben die Vertreter des Rationalismus von Neuzeit und Aufklärung, die seit ältester Zeit mit einer Nahrung spendenden Mutter gleich gesetzte Natur, so heftig bekämpft. Sie führten dabei fort, was klassische griechische Philosophen wie Aristoteles oder Platon lange zuvor in die Wege geleitetet haben, indem sie den als Mann verstandenen Menschen als „Vernunftwesen“ definierten, ihn aus der Natur heraus lösten und so in eine künstliche Konkurrenz zu der Natur brachten.11 Die immensen Bemühungen, Leben künstlich zu erschaffen, zeugen noch heute davon. Im Verborgenen, in Subkulturen und in geographischen Randgebieten, lebte der Göttinglaube weiter - und es scheint plausibel, dass Anhängerinnen und Anhänger des alten Weltbildes, anstatt von der Muttergöttin zu reden, aus Gründen des Selbstschutzes nur noch von der „Mutter“ oder von der „Königin“ gesprochen haben, anstatt von der Tochtergöttin oder Hohepriesterin nur noch von der „Prinzessin“, anstatt vom Heros nur noch von einem „Helden“. Deshalb treffen wir im Märchen auf eine einfachere Mythenform, die in ihrer Struktur aber nach wie vor die matriarchale Beziehung von Göttin und Heros zeigt, die in das jahreszeitlich wiederkehrende, rituelle Drama eingebunden ist.12
Holle-Mythen
Ein besonders schönes Beispiel finden wir in den Holle-Mythen. Hier wird der Name der Göttin noch genannt, zudem liegen die Mythen rund um Frau Holle so zahlreich vor, dass sie sich vollständig rekonstruieren und überdies sogar geographisch lokalisieren lassen, da konkrete Orte wie etwa der hohe Weissner (Meissner) oder der Holleteich angegeben sind. Im 18. und 19. Jahrhundert, als dieser reiche Mythenschatz schriftlich fest gehalten wurde, war der alte Göttinglaube an manchen Orten offensichtlich noch immer lebendig. Da einige Motive bis in die Jungsteinzeit zurück verweisen, dürfen wir in diesem Fall eine Tradierung über mindestens 5000 Jahre annehmen. Damit rückt Frau Holle als ursprüngliche Grosse Göttin Mitteleuropas in eine durchaus gleichwertige Nähe zu anderen Grossen Göttinnen wie zum Beispiel Innana aus Sumer, Isis von Ägypten oder Rhea von Kreta.13
Literatur =>
1 Göttner-Abendroth 2011a, S. 53 ff. und 1995, S. 104 f.
2 Vgl. Göttner-Abendroth 2011a, S. 16 f.
3 Vgl. Göttner-Abendroth 1999 und 2000
4 Wir dürfen für den Nahen Osten und den Mittelmeerraum einen Zeitraum von 8‘600 bis 1‘400 vor u.Z. annehmen, wovon 5‘600 Jahre durch die hochentwickelten Stadtmatriarchate geprägt waren; vgl. Göttner-Abendroth 1995, S. 104 f.
5 Göttner-Abendroth 2011a, S. 62 ff.; vgl. auch Marler in Biaggi 2006, S. 53 ff.
6 Göttner-Abendroth 2011a, S. 22 ff.
7 Vgl. Derungs in French-Wieser 2001, S. 12 ff.
8 Göttner-Abendroth 2001, S. 15 ff.; vgl. auch Seghezzi 2011, S. 37 ff.
9 Wisselinck 1987, S. 7 ff.
10 Vgl. dazu gesamthaft Wisselinck 1987, insbesondere S. 125 ff. sowie Seghezzi 2011, S. 147 f.
11 Göttner-Abendroth 2011a, S. 29
12 Göttner-Abendroth 2011b, S. 180 f.
13 Göttner-Abendroth 2005, S.134 ff.