Winter: Vom Jahresrad und den Zwölften
von dorastochter
Frau Holle schüttelt ihre Federbetten
Kaum fällt der erste Schnee, denken wir an Frau Holle, die kräftig ihre Federbetten schüttelt. Bei vielen kommt auch gleich ein wenig Weihnachtsstimmung auf. Was für ein Zauber, wenn inmitten der dunkelsten Zeit des Jahres, in der die Bäume kahl stehen und die Welt grau und leer erscheint, auf einmal der Schnee fällt und alles in eine schützende, weisse Decke hüllt!
Frau Holle mit ihrer Winterdecke
Ein Mädchen, so weiss wie Schnee, mit Lippen, so rot wie Blut, und mit Haaren, so schwarz wie Ebenholz, heisst es im Grimm'schen Märchen von "Schneewittchen" – und es scheint ganz, als wäre Schneewittchens Mutter allein durch den Anblick des Schnees schwanger geworden. Ähnliche Bilder kennen wir aus Märchen wie dem "Schneekind"1 oder der "Schneejungfrau"2. Die Symbolik zeigt eine enge Beziehung zwischen Schnee und Leben, was gar nicht so erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass er Pflanzen und Keime vor dem Frost und damit vor dem Erfrieren schützt. Vielleicht hat sich gerade deshalb das Bild von Frau Holle in ihrer Hoheit über den Schnee so wacker gehalten. Nach altem Glauben steckt aber noch etwas anderes dahinter: Frau Holle schützt das Leben nicht nur, indem sie es mit ihrer Decke aus Schnee vor den Eis- und Frostkräften bewahrt, sondern auch, indem sie es überhaupt zur Ruhe bringt.3 Denn nur so kann es sich erholen, sich regenerieren und irgendwann wieder erwachen.
"Knüpf an! Schneid ab!"
Es ist die dunkelste Zeit des Jahres und die Welt liegt tatsächlich wie im Schlaf. In diesen langen Nächten, in denen am Himmel Tausende von Sternen funkeln und auf Erden – wie ein Echo – Tausende von kleinen Lichtern leuchten, erscheint das Leben manchmal fast mehr ein Traum zu sein. Und wer weiss, vielleicht stimmt es, dass die Schicksalsfrauen gerade aus diesem grossen Traum der Welt das neue Leben wirken. Jedenfalls zeigt sich Frau Holle jetzt auch, ähnlich wie die mitteleuropäischen drei Bethen oder die griechischen Moiren, als Schicksalsgöttin, die Lebensfäden spinnt und Geschicke webt. "Knüpf an!" und "Schneid ab!" heisst es da. Sollten Sie sich jemals gefragt haben, warum zwischen den Jahren nur die dringendste Hausarbeit erledigt werden und auf jeden Fall nicht gewaschen werden darf – deshalb: Niemand soll Frau Holle ins Handwerk pfuschen, wenn sie das Wetter und die Jahreszeiten macht, alte Lebensfäden abschneidet und neue Lebensfäden spinnt, alte Seelen wieder in Kinderseelen verwandelt und das Schicksalsrad dreht.4
Die Schicksalsfrauen bringen ihren Segen
Die Zeit der Mittwinter-Sonnwende, die Weihnachtszeit, kennt viele Bräuche – und entsprechend viel könnte man dazu schreiben. Doch kein Aspekt tritt deutlicher hervor als jener des Bündnisses zwischen der Diesseits- und der Anderswelt. Mit dem Licht ist auch das Leben verschwunden. Und gerade in dieser dunkelsten Zeit des Jahres, in der die Menschen von ihren Vorräten leben, bringen uns die Schicksalsfrauen ihren Segen. Ahnen füllen Schuhe, die vor Türen stehen, werfen Äpfel und Nüsse durch den Kamin – und Frau Holle selbst zieht durch die Welt und hilft den Armen, wie uns das Märchen vom "Kätzchen mit dem Wunderknäuel" erzählt, um nur eines von vielen zu nennen. Die Menschen wiederum bitten die Schicksalsfrauen zu sich herein und bewirten sie reich, und manche stellen in der Mettenacht für den Seelenzug der Frau Holle einen gedeckten Tisch vors Haus. Die Welten der Lebenden und der Toten gehen ineinander über. Und in allem liegt ein einziges grosses Versprechen: Wir kommen zurück! Das Licht kommt zurück. Das Leben kommt zurück!
Die zwölf Nächte
Tatsächlich bringt die längste Nacht des Jahres das Sonnenkind neu hervor und mit ihm das Versprechen auf ein neues Jahr. Astronomisch betrachtet beginnt nun der Winter. In Brauchtum, Mythen und Märchen beginnt die Zeit der Raunächte, die eine ganz eigene, durch und durch magische Welt in sich vereint. Das kommt nicht von ungefähr. Über lange Zeit wurde das Jahr zugleich nach dem Sonnenlauf wie auch nach Mondmonaten gemessen. Durch die jährliche Synchronisierung der beiden Kalender bleiben zwölf Nächte sozusagen ausserhalb der Zeit, denn der dreizehnte Mond geht nicht mehr ganz auf, wenn wir ihn an das Sonnenjahr angleichen. Vor den zwölf Nächten – auch Zwölften, Weihenächte oder Mutternächte genannt – lag ursprünglich der "Holletag" oder "Berchtentag"5 mit seiner heiligen "Mettennacht"6. Die ganze Festzeit erstreckt sich vom 25. Dezember bis zum 6. Januar.
Adventskranz und Jahresrad
Es sind magische zwölf Nächte. Schwüre sind das zwölffache wert, Tiere können sprechen, aus Orakeln kann das Jahr gelesen werden. Allem voran aber wird in den Zwölften das Mysterium der Wiedergeburt und die Wiederkehr des Lichts gefeiert. Der Kreis des Jahres hat sich vollendet. Und wie jede Vollendung birgt auch die Vollendung des Jahresrads bereits den Neubeginn. Das ist auch die grundlegende Bedeutung des Adventskranzes. Seine immergrünen Zweige stehen für das ewige Leben, das sich immer wieder aus sich selbst erneuert. Ich finde, es ist ein sehr schönes Ritual, durch den Advent hindurch das Licht zu rufen und jede Woche ein Lichtlein mehr anzustecken. Wer mag, kann zugleich mit dem Jahr abschliessen und mit jeder Kerze eine kleine Rückschau halten.7
Die Mythe vom Frauenwagen
Nicht ganz zufällig fährt Frau Holle auf einem Wagen durch die Zwölften, denn das achtspeichige Wagenrad symbolisiert auch das Jahresrad mit den acht grossen Festen. Die Mythe "Der Frauenwagen" zeigt dies sehr schön und zeigt Frau Holle abermals als schenkende Frau:
"In den heiligen zwölf Nächten schritt einmal ein armer Bauer, die Axt auf der Schulter, heimwärts durch den verschneiten Wald. Während er freudig an Frau und Kind zu Hause dachte, kam plötzlich Frau Holle in ihrem Hirschwagen8 daher gefahren. Sie hielt an und sprach: 'Du kommst mir grade recht. An meinem linken Rad ist der Keilbolzen abgebrochen. Nimm schnell dein Beil und verkeile mir meinen Wagen neu. Nimm aber das beste Kernholz dazu.' Der Mann machte sich sogleich ans Werk und fertigte aus einem kernigen Bäumchen einen kräftigen Keil, dass die Späne nur so flogen. Kaum hatte er den Wagen gerichtet, rissen die Hirsche schon an den Riemen und brausten dahin. 'Die Späne nimm, sie sind dein Lohn!', rief zum Abschied die Frau. Nachdenklich trabte der Mann heimwärts und achtete nicht auf die Späne. Es ärgerte ihn ein wenig, dass die vornehme Frau mit Abfall bezahlen wollte. Da drückten ihn seine Schuhe. Als er sie auszog und umstülpte, blinkerten zwei ansehnliche Häufchen von Spänen im Schnee und gleissten im Mondlicht wie Gold. Da erkannte der Bauer, dass es Frau Holles Wagen gewesen war, den er neu verkeilt hatte. Glücklich trat er in die Hütte zu Weib und Kind und legte der Hausmutter den kleinen Goldschatz in den Schoss. Den Bescheidenen hat er zu einem stillen Wohlstand schon zugereicht, und was der Mann von nun ab in seine Hände nahm, das wuchs und gedieh ihm zum Segen."9
Sternenhimmel
"Silbernes Rad" heisst in der vorkeltischen Mythologie der Sternenhimmel, der sich scheinbar um die Erde dreht. Deshalb bedeutet das Rad mit seiner spiraligen Bewegung auch die ganze Welt.10 Ein Sterblicher richtet nun das Rad, an dem die ganze Welt hängt, und sagt uns damit, dass auch unser ganz kleines menschliches Tun in wechselseitiger Verbindung mit den universalen Kräften steht. Darin kommt ein altes Weltbild zum Tragen, nach welchem sich das Grösste im Kleinsten spiegelt und das Kleinste im Grössten. Die kleinen Kinder wissen es noch, die mit ihren Laternen umherziehen, und jedes Jahr singe ich wieder aus ganzem Herzen mit: "Oben leuchten die Sterne – und unten leuchten wir!"
Literatur
1 Das Schneekind, Märchen aus Russland, in: Wintermärchen, ausgewählt von Djamila Jaenike, Mutabor Verlag 2011.
2 Die Schneejungfrau, Märchen aus Serbien, in: Wintermärchen, a.a.O.
3 Andrea Dechant, Das Fest des wiederkehrenden Lichtes, E-Book 2013, S. 11.
4 Heide Göttner-Abendroth, Frau Holle, Das Feenvolk der Dolomiten. Ulrike Helmer Verlag 2005, S. 149 ff.
5 Tag der Percht. Er wurde im Verlauf der Zeit auf den 2. Januar verlegt.
6 24. Dezember.
7 Im Osten steht die weisse Kerze für die Zeit des Frühlings und das Element Luft. Süden: Rote Kerze / Sommer / Feuer. Westen: Blaue Kerze / Herbst / Wasser. Norden: Schwarze Kerze / Winter / Erde. In der Mitte: Goldene Kerze zur Sonnwende.
8 Der hier häufig genannte Pferdewagen entstammt einer jüngeren Mythenschicht. Vgl. Göttner-Abendroth, a.a.O., S. 152.
9 Zusammenfassung von mir; Wintermärchen, a.a.O.
10 Göttner-Abendroth, a.a.O., S. 153.